Das Auftreten von falschen Herrschern oder selbsternannten Thronprätendenten offenbart eine Krise der Legitimität der davon betroffenen Monarchie. Einer der bekanntesten Fälle dieser Art in der europäischen Geschichte der Neuzeit ist der sogenannte falsche Demetrius, der im Juli 1605 in Moskau zum Zaren gekrönt wurde, aber schon im folgenden Jahr einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Insgesamt sind in Russland im 17. Jahrhundert mindestens 23, im 18. Jahrhundert mindestens 44 Thronprätendenten in Erscheinung getreten. Für Frankreich hat Yves-Marie Bercé 1990 in seinem Buch »Le roi caché« rund 40 Personen identifiziert, die sich als Ludwig XVII. ausgaben und behaupteten, Sohn des 1793 hingerichteten Königs Ludwig XVI. zu sein.
In der vorliegenden Untersuchung entfaltet Nathalie Pigault auf der Grundlage von Polizei- und Gerichtsakten, die sie in den Archives nationales Paris und in den Archiven der Departements Ain und Isère aufgespürt hat, die Geschichte von vier Männern, die sich in den Jahren nach der zweiten Restauration der Bourbonen im Sommer 1815 als Napoleon Bonaparte ausgaben und in den Departements Ain, Isère und Lozère Anhänger um sich sammelten: Mathieu Félix, Jean-Baptiste Ravier, Jean Charnay und Pater Hilarion (Joseph) Tissot. Félix, Ravier und Charnay waren Soldaten gewesen, Félix und Ravier hatten an den Feldzügen Napoleons teilgenommen. Hilarion Tissot hatte Medizin studiert und mehrere Hospize für Geisteskranke gegründet.
Den Betrug der Hochstapler erleichterte der Umstand, dass die Menschen, denen sie begegneten, Napoleon niemals aus der Nähe gesehen hatten. Ihr vorübergehender Erfolg offenbart nicht nur die fortdauernde Anhänglichkeit vieler Franzosen an den gestürzten Kaiser, vor allem unter der ländlichen Bevölkerung, sondern auch die brüchige Legitimität der 1814 restaurierten Dynastie der Bourbonen und Ludwigs XVIII., zumindest in den ersten Jahren seiner Regierung. Sympathie erkauften sich die falschen Napoleons vor allem mit materiellen Versprechungen wie Steuererleichterung oder der Übernahme von Schulden durch den Staat. Jean Charnay kam mit dieser Propaganda 1817 die damals herrschende Hungersnot entgegen. Die vier Hochstapler litten selbst materielle Not. Vermutlich rührte daher ihr eigentlicher Antrieb. Sie ließen sich bereitwillig zu Tisch bitten und beherbergen und wiesen auch finanzielle Zuwendungen aus der Bevölkerung nicht zurück. Auf offene Ohren stießen sie vor allem bei ehemaligen Soldaten, die den glorreichen Zeiten unter dem Kaiser nachtrauerten.
Die Behörden verfolgten die Betrüger mit Härte und offenbarten auf diese Weise ihre Beunruhigung über die mangelnde Loyalität von Teilen der Bevölkerung gegenüber der Dynastie der Bourbonen und ihre Sorge um die Stabilität der erst seit kurzem restaurierten Monarchie. Ernstlich gefährden konnten die falschen Kaiser die bestehende Ordnung jedoch schon deshalb nicht, weil sie isoliert und ohne Gefolge in einem eng umschriebenen geographischen Raum operierten. Wenigstens Teile der Armee für sich zu gewinnen, hat offenbar keiner von ihnen versucht. Dementsprechend scheinen sie auch keine konkreten Pläne zur Eroberung der Macht in Frankreich entwickelt zu haben. Allerdings setzte die Verfolgung der Betrüger und ihrer Sympathisanten durch die Justiz in den betroffenen Gebieten die ohnehin schwankende Zustimmung zur restaurierten Monarchie zusätzlich aufs Spiel. Die von den Gerichten verhängten Strafen waren hart, fielen jedoch höchst unterschiedlich aus. Félix wurde am 17. Oktober 1815 zu sechs Monaten Gefängnis und einer Geldstrafe von 50 Francs verurteilt, Ravier am 28. Juni 1816 zu 18 Monaten und 50 Francs und Charnay am 27. August 1817 zu fünf Jahren und 50 Francs. Pater Hilarion Tissot dagegen kam ohne Strafe davon.
Solange Napoleon lebte, und sei es auch in der Verbannung auf St. Helena, wohin ihn die britische Regierung nach der Schlacht von Waterloo hatte verbringen lassen, konnte Ludwig XVIII. sich seines Throns nicht sicher sein. Erst des Kaisers Tod am 5. Mai 1821 befreite ihn von der verbleibenden Ungewissheit, nahm er doch jedem Betrüger endgültig die Möglichkeit, sich als Napoleon auszugeben.
Pigaults Untersuchung beruht auf Akten in den Archives nationales und in den Archiven der Departements Ain und Isère, auf Zeitungsberichten und Memoiren und auf den Schriften von Hilarion Tissot, einem der behandelten Hochstapler. Das ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnis und der reichhaltige Anmerkungsapparat dokumentieren die Sorgfalt, mit der die Autorin gearbeitet hat. Ihr Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Wirkungsgeschichte Napoleons bis 1823 und zur Geschichte der Restauration in Frankreich. Sein besonderer Vorzug besteht darin, dass es für das Untersuchungsgebiet einen Blick auf die Einstellungen der einfachen Leute gegenüber Napoleon ermöglicht.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Volker Sellin, Rezension von/compte rendu de: Nathalie Pigault, Les Faux Napoléon, 1815–1823, Paris (CNRS Éditions) 2018, 240 p., 19 p. d’annexes (Histoires d’imposteurs impériaux), ISBN 978-2-271-09285-4, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2019/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59822