»Renegade and Prophet« nennt Lyndal Roper Martin Luther im Untertitel ihrer breit angelegten, 2016 erstmals erschienenen Biografie, auf deren Cover der Reformator, noch als Mönch und mit einem Heiligenschein ausgestattet, verklärt Richtung Himmel blickt. Der hagiografische Eindruck, den die Covergestaltung weckt, bestätigt sich bei der Lektüre aber nicht. Die Australierin Roper, derzeit Regius Professor am Oriel College Oxford, ist eine ausgewiesene Expertin für deutsche Geschichte des 16. Jahrhunderts mit zahlreichen Publikationen zur Reformation, zur Geschlechtergeschichte und zur Hexenverfolgung. Die vorliegende Luther-Biografie ist das Ergebnis einer zehnjährigen Beschäftigung mit dem Reformator, aus der bereits eine ganze Reihe von Publikationen hervorgegangen ist.

Das merkt man – Ropers breite Quellenkenntnis ist ebenso eindrucksvoll wie die Leichtigkeit, mit der sie die enorme Menge an Material in die Erzählung einbindet. Sie interessiert sich vor allem für die Person Luther, will sein »inner development« (S. 9) nachzeichnen, ohne dabei aber das Umfeld aus den Augen zu verlieren, durch das Luther geprägt wurde und das er mitprägte. Im ersten der insgesamt 19 Kapitel widmet sich die Autorin deshalb ausführlich der Stadt Mansfeld, in der Martin Luther seine Kindheit verbracht hat. Das umfassende Panorama, das Roper von diesem Bergwerks-Zentrum zeichnet, ist programmatisch für das ganze Buch: Es ist der meist gelungene Versuch, Luther sowohl als Akteur und Individuum als auch in seiner Eingebundenheit in soziale Realitäten und zwischenmenschliche Beziehungen zu charakterisieren. Gerade letztere können als das Leitmotiv dieser Biografie gelten.

Die erste ist jene zum Vater, dem Patriarchen und bodenständigen Tatmenschen, von dessen Autorität sich der junge Martin emanzipieren muss, von der er aber über Jahrzehnte nicht wirklich loskommt. Auch wenn sie sich in der Einleitung von gar zu psychologisierenden Zugängen abgrenzt, greift Lyndal Roper dieses Verhältnis zum Vater immer wieder auf und führt vieles in Luthers Persönlichkeit und in seinem Verhalten darauf zurück. Das ist legitim und oft erhellend, wirkt aber manchmal etwas bemüht, etwa wenn Thomas Cajetan (den Roper allerdings in Abgrenzung zu hergebrachten Narrativen positiv charakterisiert) zur Vaterfigur im übertragenen Sinn und der Disput mit ihm im Rahmen des Augsburger Reichstags 1518 zur Fortführung der Auflehnung gegen die väterliche Autorität wird.

Überhaupt beschreibt Roper Luthers Leben als Abfolge von Beziehungen, von Freund- und Feindschaften, sei es mit Staupitz, mit Melanchthon oder auch mit Katharina von Bora. Die erhaltenen Briefe, die Luther an diese Vertrauten gerichtet hat, erlauben einen Einblick in seine ganz persönliche, gar nicht vergeistigte, sondern – wie die Autorin immer wieder betont – sehr auf Körperlichkeit ausgerichtete Weltsicht. Vor allem dem Verhältnis zu Karlstadt, der Freundschaft, die sich in Rivalität verwandelt, wird breiter Raum gegeben. Damit steht Roper ganz im Einklang mit Tendenzen der neueren Forschung, die Karlstadts Beitrag zu Luthers theologischer Entwicklung stärker hervorheben.

Streckenweise wird Karlstadt regelrecht zum zweiten Protagonisten des Buches. Die penible Rekonstruktion dieser Wechselwirkungen, des Beziehungsnetzes, dem sich der Reformator so wenig entziehen konnte wie irgendjemand anderes, ist das eigentliche Verdienst des Werks. Diese Beziehungen ergeben zusammen mit persönlichen Erfolgen und Niederlagen, Luthers Streitlust, dem Ringen mit seinen »Anfechtungen« und mit dem Teufel, seinem Arbeitseifer, seiner Gelehrsamkeit und seinen körperlichen Leiden ein umfassendes Portrait des Menschen, Theologen und Kirchenpolitikers.

Die Theologie des Reformators wird dann auch ganz nahtlos mit seiner Biografie verwoben; Roper zeigt, wie beide sich gegenseitig bedingen und nicht voneinander zu trennen sind. Etwas aus dem Rahmen fällt hier aber das Kapitel über Luthers Antisemitismus. Zwar vertritt Roper die Ansicht, dass die Judenfeindschaft ein integraler Bestandteil von Luthers Theologie und Weltbild war, behandelt sie aber erst ganz am Schluss in einem eigenen Kapitel, nicht wie viele andere Aspekte seines Denkens organisch eingebunden in die Darstellung von Luthers Lebensweg.

Eine weitere Stärke des Buches ist die reichhaltige Bebilderung. Insgesamt 75 Schwarz-Weiß-Bilder, meist zeitgenössische Holzschnitte, illustrieren den Fließtext. Dazu kommen zehn farbige Abbildungen, die auf acht Hochglanzseiten in der Mitte des Bandes untergebracht sind. Dieser Fokus auf Illustration entspricht der Thematik: Ohne Bildprogramm ist die Reformation nicht zu denken.

Den insgesamt sehr positiven Eindruck kann auch der eine oder andere Ausrutscher nicht trüben, wie der kleine Fauxpas, dass Karl V. an einer Stelle als Sohn Maximilians I. bezeichnet wird (S. 111). Für Fachleute störend ist die Entscheidung des Verlags, die Anmerkungen in End- statt in Fußnoten unterzubringen. Wer also mehr über die verwendeten Quellen und die Literatur erfahren möchte, muss viel blättern. Die Kehrseite davon ist ein flüssigeres Leseerlebnis für das breitere Publikum. Lyndal Roper schreibt angenehme Prosa, die für Laien ebenso gut lesbar ist wie für das Fachpublikum, und versteigt sich nie in akademische Capricen – dadurch ist ihre Luther-Biografie nicht nur mit großem Gewinn, sondern auch mit Vergnügen zu lesen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Markus Debertol, Rezension von/compte rendu de: 10.11588/frrec.2019.1.59827, in: Francia-Recensio 2019/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59827