Gibt es noch Neues zu Carl von Clausewitz? Interessanterweise hält sich die deutschsprachige Forschung in engen Grenzen, einmal abgesehen von Andreas Herberg-Rothe1 und Beatrice Heuser2. Das nun bezeichnenderweise in englischer Sprache vorliegende Buch von Sibylle Scheipers kritisiert wie die vorgenannten Werke eine rein instrumentale Auswertung des preußischen Kriegsphilosophen als Steinbruch für allerlei Zitate zu gerade passenden Anliegen. Selektive und teils fehlerhafte Lesarten wurden zudem durch die an entscheidender Stelle missverständliche Übersetzung ins Englische gefördert (S. 14). Denn die vor allem im englischsprachigen Raum geläufige Annahme, Clausewitz’ Lehre gelte nur dem zwischenstaatlichen Krieg, nährte die Vorstellung, dass sie mit dem Aufkommen der »neuen Kriege« seit den 1990er Jahren überholt sei. Dagegen wendet sich die Autorin, indem sie den kleinen Krieg im Gesamtkontext des Krieges verortet.

Die Vorlesungen zum kleinen Krieg des damals dreißigjährigen Clausewitz an der Berliner Kriegsschule von 1810/1811 waren grundlegend für sein späteres Werk. In den Protagonisten dieser Taktik erblickte der preußische Kriegsphilosoph das »freie Spiel des Geistes«, die »freie Seelentätigkeit« und das »Spiel der Wahrscheinlichkeiten«, die seine Kriegstheorie so entscheidend prägten (S. 3, 28). Mit Blick auf die zeitgenössische Literatur zum kleinen Krieg, die Clausewitz natürlich geläufig war (S. 29–37), entfaltet Scheipers das Paradox, dass die im kleinen Krieg eingesetzten leichten Truppen den Krieg schlechthin verkörperten, obwohl ihre Art zu kämpfen fundamental von dessen etablierter Form abwich.

Richtigerweise wertet die Autorin das Thema als »counter-hegemonic discourse« gegenüber der (vermeintlich) überrationalisierten Militärtheorie der Spätaufklärung (S. 36, 48–50). »Clausewitz’s lectures have been largely overlooked« (S. 43). Dieses apodiktische Urteil ist nicht ganz zutreffend. Ältere Werke haben sich mit diesen Vorlesungen ausführlich auseinandergesetzt3. Leider fehlen diese Klassiker im Literaturverzeichnis.

Gewissermaßen in parallelem Gedankengang zu diesen Werken entfaltet Scheipers ihre These jedoch überzeugend, wenn sie die Verschmelzung von taktischer und politischer Ebene als die epochale Leistung des preußischen Kriegsphilosophen würdigt (S. 44–48). Durchaus über die ältere Forschung hinausgehend verortet Scheipers Clausewitz’ Perspektive auf den »Volkskrieg« in der »vibrant intellectual atmosphere in Berlin« der Jahre 1795 bis 1812. Die preußische Reformära zeichnet sie als kurze, intensive »Achsenzeit« (S. 55), in der sich die neuen geistigen Strömungen mit Kants Erbe wie auch mit den politisch-militärischen Umwälzungen von Revolution und preußischem Zusammenbruch von 1806 auseinanderzusetzen hatten.

Knapp und luzide beschreibt die Autorin den geistigen Austausch von »Romantikern, Humanisten und Idealisten«, in deren Netzwerk Clausewitz eng eingebunden war (S. 61–67). Seine Bekenntnisdenkschrift von 1812 forderte einen radikalisierten Volkskrieg und suchte gleichzeitig seinen Übertritt in russische Dienste zu rechtfertigen. In deren Analyse überzeugt Scheipers’ Verknüpfung von Militärtheorie und Philosophie. Kants Frage nach der Integration individueller Freiheit in das universelle Gesetz der Vernunft mündete für die Reformer in Konzepten zum irregulären Kampf gegen die französische Dominanz (S. 85). Bekanntlich fand dieser bereits von August von Gneisenau 1808 und erneut 1811 geforderte entgrenzte Volkskrieg im »Befreiungskrieg« von 1813 nicht statt; und das Bedauern der älteren national(istisch) geprägten deutschen Literatur über dessen Ausbleiben hätte füglich im Licht der rezenten Forschung zum Thema Insurgenz, Anomie und schwacher Staatlichkeit diskutiert werden können.

Scheipers akzentuiert dagegen Clausewitz’ Hinwendung zu Zügen eines politischen »Realismus«. In der Nachkriegszeit nach 1815 fokussierte sich Clausewitz auf die politischen Konnotationen des »Partisanen«: »He moved away from the eighteenth-century idea of the partisan as a tactical role model for people’s war and towards the more pejorative notion of the partisan as the Partheygänger in its modern guise – a populist party politician and potential demagogue« (S. 108). Diese Verwandlung im Begriff des Partisanen im frühen 19. Jahrhundert aufzuzeigen, ist richtig und wichtig. Doch ist beim Gebrauch des Wortes »Partheygänger« – zumal in dieser Schreibweise! – Vorsicht geboten. Denn die alle politische Konnotationen ausschließende Militärsprache verstand den Parteigänger (französisch: »partisan«) bis tief ins 19. Jahrhundert hinein als regulären Offizier und Führer eines Detachements oder einer »Streifpartei«.

Diese vermeintliche Feinheit der Militärsemantik aber führt zurück zur durchaus pluralen Kleinkriegskonzeption Clausewitz’ zwischen Taktik, Strategie, Politik und »Volk«. Denn überzeugend konstatiert Scheipers die systematische Integration des Themas Volksbewaffnung in das Manuskript »Vom Kriege« (6. Buch, 26. Kap.) um 1826/1827 (S. 111, 122, 144). Das Konzept des Kulminationspunktes bezeichnet den Umschlagspunkt zwischen Angriff und Verteidigung. Es sei jener kontingente Zustand im Gleichgewicht der Kräfte, wo militärischer in politischen Erfolg umgemünzt werden kann (S. 130). Am russischen Beispiel von 1812 erörterte Clausewitz seine These von der Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff: In dem Maß, wie der Angreifer seine territorialen und materiellen Ressourcen erhöhe, verliere er an politischen Ressourcen zur Fortsetzung des Angriffs (S. 133f.). Damit verbindet sich die Idee des »absoluten Krieges« als die potentiell größtmögliche Steigerung der Gewalt (S. 136). Diese ist nicht gleichzusetzen mit der historischen Erscheinungsform des Totalen Krieges.

Scheipers betont, dass Clausewitz’ Diktion des Volkskrieges in einem fundamental anderen Kontext erfolgte als die irregulären Konfliktformen des frühen 21. Jahrhunderts (S. 150). So zutreffend dies auch ist, so sehr hätte die Autorin zugestehen müssen, dass nun erneut eine Verschiebung der Perspektive von »insurgency« zu »counterinsurgency« eingetreten ist – nicht unähnlich derjenigen, die sie für die preußischen Reformer nach 1815 konstatiert. Denn die katastrophalen Folgen des Irakkrieges von 2003 oder die Ereignisse in Afghanistan seit 2001 zeigen klare Ähnlichkeiten zur realen Geschichte der spanischen Guerilla von 1808–1814; nicht als patriotisch verklärten Volkskrieg, sondern als anomische Gewalt. Auch diese Geschichte ließe sich mit Clausewitz’ Analyseinstrumentarium angemessen darstellen; freilich nicht aus der westlichen Eigensicht. Dessen ungeachtet umreißt Scheipers das dynamische Wechselspiel von großem und kleinem Krieg höchst plausibel. Die Auseinandersetzung mit Clausewitz bleibt lohnend – wie auch die mit diesem Buch. Dies gilt zumal dann, wenn nicht praktische Lehren gesucht werden, sondern Anregungen zum Selbstdenken.

1 Andreas Herberg-Rothe, Das Rätsel Clausewitz, München 2001; in der englischen Fassung: Id., Clausewitz’s Puzzle. The Political Theory of War, Oxford 2007
2 Beatrice Heuser, Reading Clausewitz, London 2002; in der deutschen Fassung: Clausewitz lesen! Eine Einführung, München 2005.
3 Vgl. Werner Hahlweg, Preußische Reformzeit und revolutionärer Krieg, Frankfurt a. M. 1962, S. 26–34); Peter Paret, Yorck and the Era of Prussian Reform, Princeton; NJ 1966, S. 21f., 175–178); und Johannes Kunisch Der kleine Krieg, Wiesbaden 1973, S. 5, 23.
So auch in der Hahlweg-Ausgabe: Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 18. Aufl., Bonn 1973, 5. Buch, 6. Kap., S 526; 6. Buch, 24. Kap., S. 774, 779.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Martin Rink, Rezension von/compte rendu de: Sibylle Scheipers, On Small War. Carl von Clausewitz and People’s War, Oxford (Oxford University Press) 2018, 174 p., ISBN 978-0-19-879904-7, GBP 55,00., in: Francia-Recensio 2019/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59831