Eine auf Englisch verfasste Monografie eines polnischen Mediävisten über das vielleicht ›deutscheste‹ Thema des Mittelalters, das ottonische Königtum, erweckt große Neugierde, verspricht es doch eine eigene, wenn man so will zweifach gebrochene Perspektive auf ein sattsam behandeltes Sujet. Und mehr noch: In der Einleitung (S. 11–44) formuliert Grabowski insgesamt drei Anliegen, die zwar alle in einem Zusammenhang mit dem im Titel formulierten Gegenstand stehen, aber doch auf unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln sind und die man als Historiografiegeschichte, Rezeptionsgeschichte und Wissenschaftsgeschichte bestimmen könnte.
So geht es ihm, erstens, um eine Auseinandersetzung mit Liudprand von Cremona, respektive um die von diesem entworfene Anschauung ottonischer Königsherrschaft. Darüber hinaus soll, zweitens, der Umgang mit Liudprands Texten im Hochmittelalter am Beispiel Frutolfs von Michelsberg analysiert werden. Abschließend, drittens, nimmt Grabowski auch noch die (Quellen-)Interpretationen der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen Reichseinigung und Jahrtausendwende innerhalb ausgewählter textbooks in den Blick. Damit wird ein ambitioniertes Programm vorgelegt, bieten doch alle Gegenstände genug Material für ein eigenständiges Buch, wohingegen das vorliegende mit 240 Textseiten eher schmal ausgefallen ist.
Damit beginnen die Kritikpunkte. Während das Fehlen einer einleitenden Explikation der jeweiligen theoretischen Grundlagen der Zugänge noch mit der vermeintlich besseren Lesbarkeit der Publikation erklärt werden kann, bleiben viele der angerissenen Aspekte doch unterbelichtet. Sowohl über die Kennzeichnung von Liudprands Werk als »Propaganda« (S. 13), über die jeweilige Auslegung (und Abgrenzung) von Mythos und Narrativ (zum »Mythos« S. 15–19) oder über das spezifische Erkenntnisziel, zusätzlich die Rezeptionsgeschichte (an einem Beispiel) einzubeziehen, hätte sich der Rezensent ausführlichere Erläuterungen gewünscht. Ebenfalls zumindest verkürzt erscheint die Aussage, die Konstruktion der Ottonen als ›ideale‹ Dynastie durch Liudprand »has never been thoroughly researched« (S. 13). Gleiches gilt für die Behauptung, dass in den Diskussionen über die Herrschaftsfolge Heinrichs I. niemand die Version Liudprands berücksichtigt habe (S. 62).
Noch verblüffter hat man zu diesem Zeitpunkt bereits die Einschätzung zur Kenntnis genommen, dass es keinen signifikanten Wandel »in the interpretation of the past« durch die deutsche Geschichtswissenschaft der zweiten Hälfte des 19. und des 20. Jahrhunderts gegeben habe und dass »for them the sources were mostly unimportant, as their reliability was assumed and lacked the basis of any research or inquiry« (S. 14f.). Eine im Wissen um die vielgestaltigen, ja uferlosen Diskussionen über die Ottonen, im Wissen um die Kontroverse(n) über den Quellenwert der ottonischen Historiografie doch recht eigenwillige Bestandsaufnahme der (deutschen) Forschung. Diese wird im Übrigen auch durch die in einer Anmerkung beigestellte Relativierung – selbstverständlich gelte dies nicht für jede Arbeit, jedoch seien die »chosen works […] more or less representive and influential« (S. 14, Anm. 19) – in ihrer Zuspitzung nicht treffender. Zumal im weiteren Verlauf durchaus Unterschiede herausgestellt werden. Und ob man die 1936 erschienenen Werke von Franz Lüdtke1 und Alfred Thoß2 über Heinrich I. oder das Buch Heinrich Günters von 19413 über Otto den Großen als repräsentativ, ob man Hellmut Diwalds Heinrich-Biografie von 19864 als einflussreich charakterisieren sollte, bleibt gleichsam fragwürdig; ganz abgesehen davon, diese Werke in eine Reihe mit den wissenschaftlichen Arbeiten von Waitz über Holtzmann bis Althoff, Keller und Laudage zu setzen.
Nun ist es keineswegs abwegig, sich mit solcherlei Machwerken zu befassen, doch ist dies zum einen schon geschehen5 und zum anderen sind sie eben nicht als genuine Produkte der deutschen Geschichtswissenschaft zu klassifizieren, da sie im Fach nicht als ernstzunehmende Diskursbeiträge angesehen werden (und wurden). Als Beleg für eine bestimmte Ausrichtung einer einheitlichen ›deutschen‹ Ottonenforschung (deren Existenz zunächst einmal nachzuweisen wäre) können sie nicht herangezogen werden. Wäre es stattdessen nicht spannender gewesen, anstatt immer wieder Lüdtke und Thoß zu bemühen, zu denen bereits Carlrichard Brühl das Notwendige gesagt hat, etwa das Heinrich-Buch von Walter Mohr6 als Kontrastfolie zu benutzen? Oder Eckhard Müller-Mertens frühen (und gescheiterten) Versuch7, die Ottonen im Sinne des Historischen Materialismus zu interpretieren?
Dabei geht es nicht darum, Grabowskis Postulat der Kontinuität zu negieren – es gab (und gibt) gewichtige Fortschreibungen von problematischen Positionen –, doch worin liegt der Gewinn einer derartig absoluten Pauschalität? Zumal man mit dem gleichen Recht eine Geschichte des Wandels der Interpretationsmuster schreiben (und belegen) könnte. Die Beobachtung, dass jeder Autor unterschiedliche Schwerpunktsetzungen vornimmt und dass die jeweilige ›Zeitgebundenheit‹ eine Rolle spielt, ist überdies nicht neu (und widerspricht in einem gewissen Sinne der Kontinuitätsthese). Der Forschung zudem abzusprechen, die Quellen ernst zu nehmen (»For modern authors what was written in the tenth century is not important«, S. 239), um auf der anderen Seite zu kritisieren, diese reproduziere die Mythen des 10. Jahrhunderts, ist nicht nur ebenfalls widersprüchlich, sondern verwischt darüber hinaus den kategorialen Unterschied zwischen mittelalterlicher Historiografie und (moderner) Geschichtswissenschaft. Die mehrfach aufgezeigte Tendenz, Widukinds Sicht der Dinge zu folgen und die anderen Historiografen nur selektiv hinzuzuziehen, hätte hingegen einer tiefergehenden Prüfung bedürft. Für das primäre Anliegen, Liudprands Konstruktion eines dynastischen Idealtyps aufzuzeigen, bieten die unsystematischen Verweise dagegen wenig Mehrwert.
Ein weiteres Problem schließt sich an. Da Grabowski sein Buch thematisch gegliedert hat – er untersucht zunächst »The Making of a King« am Beispiel Heinrichs I. und Ottos des Großen (S. 47–105), der anschließende Teil handelt vom »King and his Kingdom« und beschäftigt sich vornehmlich mit den Aufständen gegen Otto den Großen (S. 107–193) und zuletzt geht es unter der Überschrift »War against Heathens as a Road to Empire« um die militärischen Zusammenstöße mit den Ungarn (S. 197–235) – stehen seine drei Zugänge jeweils unvermittelt und ohne weitere Trennung nicht nur nebeneinander, sondern gehen regelrecht ineinander über. Insbesondere die jeweils auf einzelne Absätze und wenige Sätze beschränkte Deskription der Verarbeitung Liudprands durch Frutolf mutet hier ein wenig beliebig an. Die immer wieder eingestreuten Vergleiche mit historiografischen Werken aus anderen Zeiten und Räumen, in denen ähnliche Topoi zu finden sind, bieten demgegenüber durchaus interessante Seitenblicke.
Weiterführend sind auch die Ausführungen zu Liudprand selbst. So sei das zentrale Motiv für die Herrschaftsfolge Heinrichs I. die Stilisierung des neuen Königs als rex renitens, bei derjenigen Ottos biete Liudprand ein symbolisches Narrativ, ohne den neuen König jedoch in eine karolingische Traditionslinie zu setzen; im Zusammenhang mit den Aufständen sei es Liudprand dann um die Religiosität Ottos gegangen, während er die Erfolge gegen die Ungarn dazu genutzt habe, Heinrich und Otto von den erfolglosen Königen in anderen nachkarolingischen Räumen abzuheben und als einzige Beschützer der (europäischen) Christenheit zu stilisieren. Im Gegensatz zu Widukind, der mehr an einer Beschreibung der konkreten Ereignisgeschichte interessiert gewesen sei, habe Liudprand folglich »a more ideological approach« verfolgt (so etwa S. 163).
Positiv gewendet liegt damit eine konzentrierte Diskussion des Geschichtswerkes Liudprands vor, das immer wieder auch auf die anderen zeitgenössischen wie späteren Historiografen rekurriert und gewisse Einseitigkeiten (oder Widukindbezogenheiten) der deutschen Mediävistik sichtbar macht. Als englischsprachiges Werk, dem an der einen oder anderen Stelle jedoch ein aufmerksameres Lektorat der deutschsprachigen Zitate und Literaturtitel nicht geschadet hätte, ohne überbordenden Anmerkungsapparat richtet es sich an einen großen Leserkreis, der sich mit einigen klassischen Problemfeldern der (deutschen) Mittelalterforschung vertraut machen kann. Doch all diejenigen, die die Mannigfaltigkeit der Positionen oder die grundsätzliche Wissenschaftsgeschichte des Fachs nicht übersehen, werden dabei mit einigen Gewissheiten konfrontiert, die die Fachwelt wohl anders sähe.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Simon Groth, Rezension von/compte rendu de: 10.11588/frrec.2019.1.59833, in: Francia-Recensio 2019/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59833