Der Sammelband, dem eine 2014 in Besançon durchgeführte Tagung zugrunde liegt, setzt sich mit zwei Herrschaftsgebilden auseinander, die zwischen dem 5. und 11. Jahrhundert unter dem Namen Burgund firmierten: das um 443 an den Ufern des Genfer Sees gegründete und 534 an die Merowinger gefallene Burgunderreich der Gibichungen, sowie das zwischen 888 und 1032 bestehende Königreich der Rudolfinger. Beide Königreiche erstreckten sich zeitweise über denselben Raum. Zudem können beide, mit einigen Einschränkungen, als unabhängig bezeichnet werden.
Die burgundischen Reiche haben in den letzten Jahren ein gesteigertes Interesse der Forschung erfahren und sind eingehenden Einzeluntersuchungen unterzogen worden. Da sich jedoch, wie die Herausgeberinnen in ihrer Einführung betonen, für beide Perioden eine gemeinsame burgundische »conscience identitaire« feststellen lässt, die weder 534 noch 1032 erloschen ist, sollen es die Beiträge des Bandes ermöglichen, gewisse Kontinuitätslinien zu ziehen. Diese zeigen sich vor allem, so die Prämisse, in zwei religiösen Ausdrucksformen, die in beiden burgundischen Königreichen zur Ausprägung kamen: der Pflege von Heiligenkulten und der Gründung von Klöstern.
In vier Sektionen beleuchten Forscherinnen und Forscher aus Frankreich, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und der Schweiz, darunter viele Koryphäen der Burgundforschung, die Thematik mit archäologischen und geschichtswissenschaftlichen Studien. Dabei konzentrieren sich die meisten Aufsätze allerdings spezifisch auf eines der beiden Königreiche.
Die Beiträge der ersten Sektion widmen sich den Fragen der Christianisierung und ihrer Verflechtung mit antiken und germanischen Traditionen. Sie fokussieren sich folglich auf Burgund zur Zeit der Gibichungen und Merowinger, als gallo-römische, burgundische und fränkische Einflüsse aufeinanderprallten und sich vermischten. Solche Akkulturationen offenbaren die archäologischen Untersuchungen von Katalin Escher und Françoise Passard-Urlacher zu burgundischen Grabbeigaben sowie von Jean Terrier zu burgundischen Sakralbauten. Ähnliche Rückschlüsse lässt die Auseinandersetzung mit schriftlichen Zeugnissen zu, etwa durch die Ergründung von burgundisch-römischen Orts- und Personennamen in der »Vita S. Treverii Monachi« (Wolfgang Haubrichs) oder die Frage nach der Zusammenlegung von gens und religio in historiografischen Berichten über die arianischen Burgunder (Bruno Dumézil).
Im zweiten Teil wird der Anteil Burgunds an der Entstehung von Mönchsgemeinschaften untersucht. Zunächst referiert Sébastien Bully den aktuellen Stand der archäologischen Forschung zu den vielfältigen monastischen Einrichtungen, die von der Spätantike bis ins Frühmittelalter in der Erzdiözese Besançon entstanden sind. Nach den Ausführungen von Éric Chevalley zum wirkmächtigen Kult der Thebäischen Legion und seinem Einfluss auf die königliche Gründung des Walliser Klosters Saint-Maurice d’Agaune, zeigt ein Beitrag von Anne-Marie Helvétius über die monastische Textproduktion die Bedeutung des burgundischen Raumes für die Entwicklung des spätantiken und frühmittelalterlichen Mönchtums auf. Éliane Vergnolle verweist schließlich auf die große Diversität der im 11. Jahrhundert entstandenen romanischen Kirchenbauten im cis- und transjuranischen Burgund.
Den Verstrickungen weltlicher und geistlicher Gewalt widmet sich der dritte Teil des Bandes. Hier liegt der Fokus zunächst auf Fragen des Austausches zwischen den arianischen Gibichungen mit den katholischen Eliten ihres Reiches sowie den ebenfalls katholischen Franken. Während Justin Favrod zeigen kann, dass die Burgunderkönige mit dem katholischen Klerus harmonischer kooperierten als es die, meist aus katholischer Sicht verfassten, schriftlichen Quellen suggerieren, beleuchtet Emmanuelle Santinelli-Foltz mit einem frauengeschichtlichen Ansatz den personenbezogenen, religiösen und kulturellen Austausch zwischen Franken und Burgundern am Beispiel der Königin Chrodechild († 544), die aus Burgund stammte, später jedoch den fränkischen König Chlodwig I. heiratete.
Überaus lohnenswert ist der Beitrag von Ian Wood zu den Werken des heiligen Erzbischofs Avitus von Vienne (um 490–518), die Rückschlüsse auf das Selbstbild der Gibichungen zulassen. Wood kann herausarbeiten, dass sich die Gibichungen als römische Funktionäre betrachteten und so den Titel eines magister militum beanspruchten. Der Titel rex Burgundiae und die Bezeichnung ihres Herrschaftsbereichs als regnum seien demnach eine nachträgliche Konstruktion von Autoren wie Gregor von Tours.
Nach einer »revisitation« der Schilderung der fränkischen Eroberung Burgunds durch Gregor von Tours von Yaniv Fox richtet Nathanaël Nimmegeers seinen Blick auf die Karriere des Vienner Metropoliten Ado (859–875) und seinen Stellenwert als untypischer Vertreter der karolingischen Renaissance. Die das rudolfingische Königreich betreffenden Beiträge von François Demotz zur Rolle der Lyoner Klöster für die Herrschaft der Rudolfinger und Nadia Togni zu Bischof Friedrich von Genf (1030/32–1073) und seine Bedeutung für die Kirchenreform in Genf beschließen diesen Teil.
Die vierte und letzte Sektion nimmt schließlich die Bedeutung von Heiligenkulten für die burgundische Identitätsbildung in den Blick. Dies geschieht zunächst mittels eines Überblicks zur hagiografischen Produktion in ausgewählten Diözesen der Kirchenprovinzen Lyon und Sens zwischen 750 und 950 (Michèle Gaillard mit Alain Rauwel). Danach untersucht Jean-Baptiste Renault den Stellenwert von Heiligen in Urkunden des Klosters Saint-Victor de Marseille im 11. Jahrhundert. Anschließend versucht Anne Wagner, dem Kult und der Erinnerung der heiligen Bischöfe in Besançon mit Hilfe dreier Bischofslisten nachzuspüren, die unter Erzbischof Hugo I. von Besançon (1031–1066) entstanden sind.
Ein besonderer Gewinn ist schließlich die Lektüre des Beitrags von Laurent Ripart zu der Frage, ob sich die Rudolfingerkönige tatsächlich als Erben der Burgunderkönige betrachteten. Dafür analysiert er drei wesentliche Aspekte monarchischer Identität: territoriale Definitionen des Herrschaftsgebiets in Urkunden, dynastische Bezüge durch die Vergabe entsprechender Personennamen und die königliche Reliquienpolitik. Letztlich findet Ripart eine positive Antwort auf seine Forschungsfrage und betont, dass vor allem die Sorge der Rudolfinger um den von König Sigismund gestifteten Kult im Kloster Saint-Maurice d’Agaune einen eindeutigen Bezugspunkt darstellt. Gérard Moyse rundet den Band mit einer Zusammenfassung und Überlegungen für weiterführende Forschungen ab.
Ein übergreifendes Urteil gestaltet sich indes schwierig. In der Summe liegen anregende Beiträge auf der Höhe der aktuellen Burgundforschung vor, jedoch bleibt der Band letztlich eine Sammlung von Einzelstudien, die vor allem für Expertinnen und Experten der einzelnen Untersuchungsgebiete geeignet sind und diesen mitunter kaum neue Erkenntnisse bringen. Die identitätsstiftende Rolle der Religion für die burgundischen Königreiche wird zwar als verbindende Klammer deutlich, die eingangs formulierte These der großen Kontinuitätslinien zwischen dem 5. und 11. Jahrhundert wird allerdings, sieht man von Laurent Riparts Aufsatz ab, kaum aufgegriffen. Dass die spannende Frage nach einem gemeinsamen burgundischen Identitätsbewusstsein aufgeworfen wurde, bleibt jedoch ein unbestreitbares Verdienst des vorliegenden Tagungsbandes.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Johannes Luther, Rezension von/compte rendu de: Anne Wagner, Nicole Brocard (dir.), Les Royaumes de Bourgogne jusqu’en 1032 à travers la culture et la religion. Besançon, 2–4 octobre 2014, Turnhout (Brepols) 2018, 412 p., 83 ill. en n/b, 21 ill. en coul. (Culture et société médievales, 30), ISBN 978-2-503-57583-4, EUR 80,00., in: Francia-Recensio 2019/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59838