Kaum eine frühmittelalterliche Überlieferung bereitet Herausgebern wie (Rechts)historikern derart Kopfzerbrechen wie die Lex Salica (LS). Auch nach rund zwei Jahrhunderten sind die Forschungsdebatten um seine Entstehung und Datierung, um die Unterscheidung zwischen Erstfassung und den Addenda, um den Aufbau und die dahinterstehende Konzeption sowie um den Geltungsbereich und ihre Anwendung nicht abgeschlossen. In seiner Studie »Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs« nähert sich Karl Ubl nun diesem Rechtsdokument aus kulturhistorischer Perspektive, indem er dessen Inhalt und die daraus hervorgehenden Fragen vor dem Hintergrund des jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontextes diskutiert. Das Ergebnis ist eine fundierte und stringent dargelegte Untersuchung, die nicht nur einige bemerkenswerte Antworten auf die genannten Fragen zu geben vermag, sondern sich auch durchaus flüssig liest.

Ubl möchte aufzeigen, dass »schriftliches Recht eine enorme Widerständigkeit annehmen konnte und dass durch die Konfrontation mit unzeitgemäßen Normen immer wieder neue Sinnstiftungen möglich wurden« (S. 254). Dabei spricht er der LS eine »gemeinschaftsbildende Funktion« zu, die einen bedeutenden »Beitrag zur Integration und Stabilisierung« leistete (S. 30). Die Studie besteht aus neun Kapiteln, eingerahmt von einem Geleit- und Vorwort, einem Anhang samt umfassender Bibliografie sowie einem Handschriften- und Namensregister. Die Einleitung (Kap. 1, S. 11–35) besteht aus einer umfassenden Forschungsgeschichte, die auch auf die jeweiligen Hintergründe der besprochenen Arbeiten eingeht. Die drei folgenden Kapitel befassen sich mit der merowingerzeitlichen Entstehung und (Be)deutung der LS.

Kapitel 2 (S. 37–65) unterstreicht die Einzigartigkeit der ohne Vorbilder auskommenden LS und stellt dabei die bisherige Datierung der A-Fassung um 507–511 in Frage. Ubl stellt mit Allen Murray das Fehlen eines Belegs für Chlodwigs I. Urheberschaft fest und verweist auf den nur in zwei Handschriften überlieferten Epilog, der in diesem Zusammenhang lediglich einen primus rex francorum erwähnt. Ubl argumentiert plausibel, warum eine Entstehung zwischen 475 und 486/487 wahrscheinlicher ist. Die Erwähnung des Kohlenwaldes als innerfränkische Grenze in Titel 47 wird dabei als spätere Interpolation gedeutet.

Kapitel 3 (S. 67–97) fragt nach den Motiven hinter der Verfassung der LS. Augenfällig sind die den Franken gewährten Privilegien und Freiheiten: das doppelte Wergeld sowie die Befreiung von Körperstrafen und der richterlichen Unterordnung. Das erhöhte Wergeld sollte die fränkische Gruppenidentität stärken und alle anderen zum Eintritt in die LS und damit zur Unterwerfung gegenüber dem König motivieren (»ethnic engeneering«). Der LS käme damit die Funktion eines Gründungsmythos zu (S. 31). Die Wergelder sind nach militärischem Nutzen und Interessen des Königs gestaffelt, ein zentrales Kriterium zur weiteren Bestimmung der Strafhöhe ist die Schuld.

Wichtig für das Verständnis der LS ist Ubls Darlegung, dass die vom Herausgeber Eckhardt postulierte Unterscheidung zwischen dem merowingischen Pactus legis Salicae und der karolingischen Überarbeitung obsolet sei. Im anschließenden Kapitel 4 (S. 99–135) fragt Ubl nach den merowingischen Ergänzungen der LS und schlägt folgende Chronologie vor (S. 104): (1) Capitulare quintum, (2) Capitulare primum, (3) Capitulare tertium, (4) Pactus pro tenore pacis (beide erlassen durch Childebert I. und Chlothar I.), (5) Edictus Chilperici (I.) und (6) Decretio Childeberti (II.). Die in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts erlassene Überarbeitung der LS (die C-Fassung) führt Ubl auf die Initiative König Chilperichs I. zurück.

Die Addenda spiegeln die Agenda der verschiedenen Herrscher wider. Die Ergänzungen unter Childebert I. und Chlothar I. übernahmen verstärkt römische und kirchliche Normen, die Ubl als »Anfänge eines römisch-fränkischen Mischrechts« deutet. Dagegen kennzeichnen sich Chilperichs Erweiterungen durch eine Rückbesinnung auf die fränkische Tradition und die Aufrechterhaltung der fränkischen Privilegien. Die 597 durch Childebert II. erlassenen Bestimmungen knüpfen wiederum an die Rechtspolitik Childeberts I. an: Die fränkischen Freiheiten werden auf ein Minimum reduziert, wodurch die LS in wesentlichen Punkten außer Kraft gesetzt wird. In der von Chlothar II. erlassenen Lex Ribuaria, die Ubl als neues Gesetz für die Provinz Ribuarien um Köln deutet (S. 130; sie löste damit die bis dahin auch im Osten gültige LS ab) werden die fränkischen Freiheiten hingegen gewahrt. Die Frage, warum es keine vergleichbare Überarbeitung der LS gegeben hat, obwohl »die Notwendigkeit einer Revision« erkannt worden sei, beantwortet Ubl etwas unbefriedigend mit einem »Wandel im Umgang mit der LS«, deren Petrifikation bereits im frühen 7. Jahrhundert abgeschlossen gewesen sei (S. 133).

Auf die folgenden vier Kapitel kann hier nur sehr knapp eingegangen werden. Kapitel 5 (S. 137–163) befasst sich mit der ersten karolingischen Überarbeitung unter Pippin III. (D-Fassung), die Ubl als Bekenntnis zur »Kontinuität seines [d. h. Pippins] Königtums mit der langen Herrschaft der Merowinger« deutet (S. 163). Im Zentrum von Kapitel 6 (S. 165–191) stehen die Überarbeitungen unter Karl dem Großen (eine erste um 788 sowie eine zweite um 802). Die Bedeutung der LS aus Sicht Karls des Großen bezeugen außerdem die zusätzliche Erstellung einer Übersetzung, eines Kommentars sowie mehrerer Kapitularien. Kapitel 7 (S. 193–219) legt dar, dass, obwohl die meisten Handschriften aus dem 9. Jahrhundert stammen, die LS bereits zu diesem Zeitpunkt an Bedeutung verlor.

Maßgeblich für die weitere Verwendung wurde die Kapitulariensammlung des Ansegis (um 827). Das durch die LS verbreitete ethnische Modell hatte spätestens seit dem ausgehenden 9. Jahrhundert seine Bedeutung verloren. Das anschließende Kapitel 8 (S. 221–244) befasst sich mit der Verwendung der LS im 10. Jahrhundert und stellt dabei ein zunehmend antiquarisches Interesse fest. Obwohl die LS auch weiterhin von lokalen Amtsträgern verwendet wurde, stellt sie eine Sackgasse in der europäischen Rechtsgeschichte dar. In Kapitel 9 (S. 245–254) unterstützt Ubl die gängige Auffassung, dass es keine Kontinuität zwischen der LS und der im 12. Jahrhundert entstandenen europäischen Rechtstradition gibt, er unterstreicht aber gleichzeitig, dass ihre Bedeutung als Vorreiter und Vermittler von Recht nicht unterschätzt werden sollte.

Mit seiner umfassenden und weitestgehend überzeugenden Untersuchung hat Ubl die LS-Forschung erheblich vorangebracht. Nur sehr vereinzelt finden sich geringfügige Schwächen, die für die Einschätzung der LS aber unerheblich sind. So hält ein zweiter Blick dem ersten Eindruck einer grundsätzlich verschiedenen Darstellung Chilperichs I. bei Gregor von Tours und Venantius Fortunatus (S. 121) nicht stand , und auch die Erwähnung eines Romanus miles reicht alleine nicht aus, um die militärische Funktion der Römer zu belegen (S. 263). Ein Index, der auch die besprochenen Rechtsbegriffe sowie weitere Stichworte enthalten würde, hätte den Zugriff auf die einschlägigen Stellen erleichtert. Ubls kulturhistorischer Ansatz erweist sich damit als sehr fruchtbar. Das Ergebnis ist eine beeindruckende Studie, die für zukünftige Untersuchungen zur LS und verwandten Themen unentbehrlich sein wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Laury Sarti, Rezension von/compte rendu de: Karl Ubl, Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs. Die Lex Salica im Frankenreich, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2016, 313 S. (Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter, 9), ISBN 978-3-7995-6089-4, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2019/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59840