Die von der Mystikforschung mit großer Spannung erwartete germanistische Dissertationsschrift, die die Verfasserin 2014 an der Universität Oxford eingereicht hat, liegt seit 2017 nun auch in publizierter Form vor. Sie erfüllt insofern ein Desiderat, als sie die bisher – auch in wissenschaftlichen Kreisen – zu wenig wahrgenommene volksprachliche Vita der Prämonstratensernonne Christina von Hane (ehemals: Retters) nicht nur einer breit angelegten eigenständigen Studie unterzieht, sondern auch eine Neuedition des Textes nach dem unikalen Überlieferungsträger (BNU Strasbourg, Ms. 324) sowie des darin enthaltenen Co-Textes, einer deutschen Prosalegende der Maria Magdalena, leistet. Der Arbeit ist ein Abbildungsteil mit vier schönen, farbig abgedruckten Handschriftenseitenreproduktionen (S. 351–355) sowie ein hilfreiches Register (S. 393–397) beigegeben.
Die eigentliche literaturwissenschaftliche Studie geht in ihrem ersten Kapitel von einem forschungsgeschichtlichen Abriss der nicht eben ausufernden Christina-Spezialliteratur aus (S. 3–9) und räumt dabei durchaus bereits einige methodisch fragwürdig erschlossene Gewissheiten (wie die biographische Herkunft der Mystikerin aus dem Geschlecht der Grafen von Nassau; vgl. S. 5f.) ab, bevor sie zur Grundlegung des eigenen Untersuchungsansatzes kommt (S. 9–36), für den die performative Dimension der materiellen Textüberlieferung, »didaktisch« verstanden als Einschreibung eines von den Rezipierenden zu leistenden »Nachvollzugs«, als entscheidendes Paradigma eingeführt wird (vgl. bes. S. 10f.,17f. und 28ff.).
Am Gegensatz des mystischen und hagiographischen Diskurses arbeitet sich – wenn diese sich denn überhaupt idealtypisch voneinander separieren lassen – das folgende, zweite Kapitel zum »Text(-körper): mystisch, hagiographisch« ab (S. 37–98), das die Materialität des Textes als Ausweis seiner (hagiographischen) »Gebrauchsfunktion« (S. 62) begreift. Etwas problematisch wird die Darstellung Kirakosians aber im zweiten Teil des Kapitels (S. 65ff.), wenn sie das für die Viten- und Offenbarungsliteratur so einschlägige Motiv des Beichtvaters als »Autorkonstruktion« (S. 69) eingehend untersucht, und dies nicht nur aufgrund einzelner inhaltlicher Fehler (wie etwa die Angabe, Heinrich von Nördlingen – statt Heinrich von Halle – gelte als Hagiograph Mechthilds von Magdeburg, vgl. S. 70). Denn zum einen hätte auch die Rolle der Mystikerin hinsichtlich einer Autorschaftsdimension genauer diskutiert werden müssen, zum anderen die für die Texte selbst noch viel entscheidendere Verantwortlichkeit Gottes für die mystische Rede und deren Publikwerden. Mit der Aufwertung der teils als augenzeugenhafter Erzähler fungierenden, stets im Text aber nur als Schreiber angesprochenen Ich-Figuration des namenlosen Bruders zum – sei es auch nur impliziten – Autor vergibt die Studie aber die Chance, sich noch deutlicher von der cura monalium-These Grundmanns und den produktionsgenetischen Überlegungen Ringlers vom sog. Legendarisierungsprozess zu distanzieren.
Wenn aber jenem broder der dyße schryben (CH 57, 45f.) gegenüber der Begnadeten im dritten Großkapitel »Ich-Konstitutionen und Perspektivenvielfalt« (S. 99–167) auch noch eine prophetische Rolle zugesprochen wird, die bei den Rezipierenden schließlich doch für den »gewünschten Lektüremodus« zu sorgen habe (vgl. S. 106, 110 [Zitat] und 115), so wird die in der Vita selbst entworfene Konstellation von Christina und dem schreibendem Bruder, der in seinen exegetischen Überlegungen eben durchaus auf die Hinweise der begnadeten Nonne angewiesen ist, geradezu umgekehrt (vgl. CH 8,4f.: so wille ich eyn deylle vß legen, als ich van yre selber gehoirt hayn). Statt dem zwischen textinterner und -externer Ebene schwer differenzierbaren Konstrukt eines »impliziten Lesers«, der den pragmatischen »Nachvollzug« der Vita zu leisten hat, so viel Raum zu geben (vgl. S. 116–145), hätte der in vielen Zügen so erstaunliche Text selbst mit seinen verschachtelten Sprecherwechseln zwischen resümierendem heterodiegetischen Erzählerbericht und plötzlich eingeschobener Ich-Rede der Schwester, gerade weil sich in der Endpartie der Vita (ab Kap. 97) so ein deutlicher Fokuswechsel zugunsten der Homo- oder gar Autodiese der bruyt ergibt, doch dagegen ein vorzügliches Überprüfungs- und Ausweitungsfeld der Überlegungen Bürkles zur unterschiedlichen rhetorischen Valenz beider Erzählmodi bereitgestellt.
Wesentlich gewinnbringender liest sich das vierte Kapitel zur allegorischen und typologischen Dimension der Gottesbraut, das besonders die mariologischen Implikationen des Deutungsschemas stark zu machen sucht (S. 169–220), auch wenn mir die Brautallegorie gerade keine »Bühnenrolle mit entsprechendem Inszenierungspotenzial« (S. 191) darzustellen scheint. Ebenso wichtige Detailbeobachtungen bietet das fünfte Kapitel (S. 221–249) mit seinem Erweis eines (sicher noch näher zu untersuchenden) Zusammenhangs zwischen den Entwürfen der Christina von Hane-Vita und dem Seelengrund-Konzept bei Meister Eckhart sowie den Bemerkungen zur – hier tatsächlich einmal »performativ« wirksam werdenden – inkarnatorisch wie respiritualisierend ausspielbaren Buchmetaphorik, die in der Zusicherung des Herren an Christina kulminiert: Du byst eyn lebendiges buche (CH 72,4). Auch die das Kapitel abrundenden Überlegungen zum (nicht?)fragmentarischen Status der Vita (S. 249) sind sehr bemerkenswert.
Das Fazit Racha Kirakosians (S. 251–255) greift dagegen – vielleicht nun wirklich zu repetitiv – einmal mehr die Kernvokabeln »Performanz« sowie »Vollzug/Nachvollzug/Lesevollzug« und »Materialität« auf. Warum nun aber bei einem Text, der das mystische Erleben derart stark über die Physis der begnadeten Schwester ausagiert, es vordergründig um den »Schriftkörper als externalisierte Präsenz der Heiligkeit« (S. 254) gehen soll, während die Körperlichkeitsdimension der weiblichen Protagonistin samt ihrer theologischen Signifikanz (Christusnähe) beiseite gewischt wird, erschließt sich allerdings trotzdem nicht ganz.
Besonders verdienstreich ist sicherlich die der Studie beigegebene Edition der Christina-Vita und Maria-Magdalenen-Legende, die nicht nur durch die transparente Darlegung der Handschriftenuntersuchung und Editionsprinzipien, sondern auch durch die wenigen korrigierenden Eingriffe in den Wortlaut beeindruckt, und so den lesenswerten Textverbund nun leichter rezipierbar macht. Dabei mag der/dem Lesenden die Entscheidung der Herausgeberin, gegen das Manuskript eine Kapitelzählung einzuführen und auf die Wiedergabe der – sonst im Lauf der Untersuchung immer wieder argumentativ ausgewerteten – Unterstreichungen zu verzichten, sehr entgegenkommen; die Ebene der »Materialität der Textlichkeit« (S. 59) erfasst dies jedoch dann leider nicht mehr vollständig. Äußerst wünschenswert für den akademischen Unterricht wäre es, wenn aus der Editionsarbeit und den – bei aller Kritik im Einzelnen – doch immens ertragreichen interpretativen Bemühungen Racha Kirakosians eine preislich erschwingliche Studienausgabe dieses nicht länger zu vernachlässigenden Textes entstehen könnte, die zusätzlich über einen Stellenkommentar und eine Übersetzung in modernes Neuhochdeutsch verfügt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Daniel Eder, Rezension von/compte rendu de: Racha Kirakosian, Die Vita der Christina von Hane. Untersuchung und Edition, Berlin, Boston (De Gruyter) 2017, XII–397 S., 4 farb. Abb. (Hermaea. Neue Folge, 144), ISBN 978-3-11-053632-4, EUR 99,95., in: Francia-Recensio 2019/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59841