Wenn man bedenkt, welche Bedeutung der Heiligenkult im Mittelalter hatte, ist es nicht erstaunlich, dass die Forschungen in diesem Bereich seit Jahren immer wieder neue und anregende Studien hervorbringen. Das hier besprochene Buch gehört zweifellos dazu. Es stellt neun fast ausschließlich in englischer Sprache geschriebene Beiträge vor, die die Analyse von Wundersammlungen aus dem Hoch- und Spätmittelalter zum Inhalt haben. Geografisch decken sie den Raum vom Mittelmeer und Ungarn bis nach Skandinavien und zu den Britischen Inseln ab. Sie alle haben zum Ziel, besser zu verstehen, wie Sammlungen von Wunderberichten entstanden, welche Strukturen sie hatten, welche Funktionen sie in der Gesellschaft erfüllten und welche Bedeutung ihnen insbesondere bei den Kanonisierungsprozessen zukam. Die Einteilung in drei Abschnitte gibt dem Band eine klare Struktur, sodass es sich mehr um ein von verschiedenen Autoren geschriebenes Buch handelt als um eine mehr oder weniger lose Aufsatzsammlung.

Das erste Kapitel ist den Kriterien und Methoden gewidmet, die bei der Zusammenstellung von Wundersammlungen angewendet wurden, denn jene sind praktisch ausnahmslos das Resultat bewusster Auswahlprozesse. Der erste Beitrag von Gábor Klaniczay (Budapest) beschäftigt sich mit zwei Heiligen aus Ungarn, Elisabeth und Margareta. Hier wird deutlich, wie die Wunder in ihren Kanonisierungsprozessen untersucht wurden und dass auch scholastische Überlegungen eine Rolle spielen konnten. Darauf zeigt Laura Ackerman Smoller (Rochester) am Beispiel des Dominikanerheiligen Vinzenz Ferrer, wie die Überarbeitung von Wundersammlungen die Auswahl der Texte beeinflusste: In Prozessakten und hagiografischen Schriften ist so ein unterschiedliches Bild des Heiligen als Wundertäter entstanden. Im dritten Beitrag, der aus der Feder Letizia Pellegrinis (Macerata) stammt, geht es um die Wunder Bernhardins von Siena. Bei deren Auswahl wurden die persönlichen Interessen verschiedener Gruppen hintangestellt, um das gemeinsame Ziel, die Kanonisierung des Heiligen, nicht zu gefährden.

Das zweite Kapitel des Bandes beschäftigt sich vorrangig mit Beweisen und Zweifeln an Wundern. Auch Laien waren dabei in den Wahrheitsfindungsprozess eingebunden, bevor dann die Kurie entschied, ob alle Bedingungen für eine Kanonisierung gegeben waren. Anders Fröjmark (Kalmar) untersucht hier zunächst die Wundersammlungen von vier schwedischen Heiligen, um zu zeigen, wie die Zusammenkunft von Menschen, die die Wunderkraft am eigenen Leib erfahren hatten, und den offiziellen Schreibern der Berichte ablief. Insbesondere Zusätze oder Veränderungen sind dabei sehr aussagekräftig. Christian Krötzl (Tampere) interessiert sich für die Art und Weise, wie Heilige an ihrem Schrein angerufen wurden, wie auf diese Weise Wundertätigkeit ausgelöst wurde und welchem kulturellen und sozialen Wandel diese Praktiken unterworfen waren. Im dritten Beitrag dieses Abschnitts, dem einzigen, der auf Französisch geschrieben wurde, hat Didier Lett (Paris) die soziale und politische Dimension des geäußerten Zweifels bei Wundererzählungen in den Kanonisierungsprozessen des 13. und 14. Jahrhunderts herausgearbeitet.

Der Wahrheitssuche wird auch im dritten Kapitel ein besonderer Platz eingeräumt, und insbesondere den Zeugenaussagen und der Rhetorik, die angewendet werden musste, um die Untersuchungskommissionen zu überzeugen. Das Fragenprotokoll beeinflusste hierbei natürlich den Ablauf der Untersuchung, aber deren Ausgang wurde den Zeugen nicht diktiert. Diese mussten selbst Elemente und Beweise suchen, um damit die Kommission für sich zu gewinnen. In Jenni Kuulialas (Tampere) Beitrag geht es dabei um die Beschreibung von physischen Krankheitssymptomen. Sari Katajala-Peltomaa (Tampere) zeigt in ihrer Studie, welch große Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der Ruf eines Zeugen haben konnte; dieser musste sich bei seinem Auftritt in gewisser Weise selbst darstellen. Schließlich untersucht Jonas Van Mulder (Antwerpen) Visionen, die Laien zuteil wurden. Deren persönliche Erfahrungen wurden während des Prozesses der Verschriftlichung in offizielle, rechtliche Formulierungen gekleidet.

Wie schon eingangs festgestellt, erweist sich die Lektüre dieses Bandes als sehr anregend: Zum einen wird wieder einmal klar, dass die vielen Wunderberichte, die wir aus dem Mittelalter haben, nicht einfach als Beleg für die Gutgläubigkeit und Naivität der Menschen gewertet werden dürfen. Viel öfter bestimmte der Wunsch, die Wahrheit dessen zu kennen, was wirklich passiert ist und was rational nicht erklärt werden konnte, die zum Teil komplexen Verfahren, die angewendet wurden, bevor ein Wunder als solches Anerkennung finden konnte. Zum anderen erlaubt das Buch, neben etablierten Forschenden auch einige junge Nachwuchsforscherinnen und -forscher zu entdecken, die im deutsch-französischen Sprachraum bisher nicht oder kaum bekannt waren.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Klaus Krönert, Rezension von/compte rendu de: Christian Krötzl, Sari Katajala-Peltomaa (ed.), Miracles in Medieval Canonization Processes. Structures, Functions and Methodologies, Turnhout (Brepols) 2018, X–290 p. (International Medieval Research, 23), ISBN 978-2-503-57313-7, EUR 80,00., in: Francia-Recensio 2019/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59843