Müller: Martin Le Franc, Agreste otium – De bono mortis. Herausgegeben und übersetzt von Raphael Schwitter, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2018, CXXXVI–300 S. (Monumenta Germaniae Historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 30), ISBN 978-3-447-10750-1, EUR 78,00.

Es war, zumindest für die Spezialforschung, ein veritabler Paukenschlag, als Claudia Märtl 2010 auf einer Münchner Tagung über das Ende der konziliaren Epoche mit einem unbekannten, genau zum Thema passenden Text aufwartete, den sie in einer Augsburger Handschrift entdeckt hatte: das Dreiergespräch »Agreste otium« des Martin Le Franc, der bis dahin fast ausschließlich durch seine moralisch-didaktischen Werke in französischer Sprache bekannt war, allen voran das allegorische Versepos »Le champion des dames« (1440–1442) sowie ein Streitgespräch zwischen Fortuna und Tugend, »L’Estrif de Fortune et de Vertu« (1447).

Nun aber gewinnt der dem savoyischen Konzilspapst Felix V. als Sekretär und Protonotar verbundene Propst von Lausanne auch als lateinisch schreibender Autor Profil mit diesem 1451 verfassten ersten Rückblick auf die konziliare Epoche und insbesondere das 1449 zu Ende gegangene Basiliense, indem zum einen die Bedeutung des kurz zuvor verstorbenen und sogleich im Ruf eines heiligen Wundertäters stehenden Kardinals und Basler Konzilsführers Louis Aleman höchst kontrovers diskutiert wird, und zum anderen die Verdienste für Frieden und Einheit eines von Gott erwählten und geleiteten Frankreich mit König Karl VII. an der Spitze Würdigung erfahren1.

Dass Frau Märtl dann als Präsidentin der Monumenta Germaniae Historica die Edition samt ausführlicher Einleitung und Kommentierung des recht umfänglichen »Agreste otium« einem Nachwuchswissenschaftler überlassen konnte, der von 2013 bis 2016 als Schweizer Postdoc-Stipendiat bei den Monumenten arbeitete, war eine doppelt gute Fügung, da die Thematik des Konzils samt savoyischem Umfeld ja auch ein Helveticum darstellt, und zudem mit Raphael Schwitter ein im Wortsinn ausgezeichneter Altertumswissenschaftler zur Verfügung stand, dessen Dissertation über gesellschaftliche und kulturelle Umbrüche der Spätantike im Spiegel lateinischer Briefliteratur 2015 mit dem Bruno-Snell-Preis der Mommsen-Gesellschaft bedacht wurde2.

Denn bei der Herausgabe dieses Texts, für die auch noch eine kürzlich aufgefundene Straßburger Überlieferung herangezogen werden konnte3, sowie bei der des kürzeren, bisher ebenfalls unedierten Trostdialogs »De bono mortis« von Martin Le Franc aus dem Jahr 1437 galt es, Zitate antiker Autoren in großer Fülle und Dichte zu verifizieren und immer wieder antike Hintergründe und Anspielungen auch mythologischer Art auszuleuchten. Kurz, hier ediert ein Altphilologe auf Monumenta-Niveau, der sich selbstredend in der internationalen Literatur gut auskennt (sie indes bisweilen etwas nachlässig zitiert; die Liste der – allesamt kleinen – Versehen fällt relativ lang aus4) und der nicht zuletzt durch die klare und gut lesbare Einleitung erkennen lässt, dass und wie er die Materie beherrscht – nur die »Protreptik in einem visionär-onirischen Setting« stellt da einen fachchinesischen Ausrutscher dar (S. LXXIV).

Verdienstlich ist auch Schwitters Übersetzung beider Werke, wobei er bisweilen zu einer etwas freieren, doch fast immer nachvollziehbaren Übersetzung neigt, wie auch ein Vergleich mit den von Märtl in ihrer Studie übersetzten Passagen zeigt. (Am Rande: Ob accidia/acedia nicht eher die von Schwermut und Hoffnungslosigkeit verschattete Trägheit als den bloßen »Missmut« meint?; S. 188) Angesichts der Tatsache, dass Le Franc fast ausschließlich in der frankophonen Literaturgeschichte bekannt und dort wohlbekannt ist, hätte eine französische Übersetzung eigentlich nähergelegen; doch dürfte manch Deutschkundiger aus der Internationale der Konzilshistoriker – so diese nicht ohnehin polyglott ist – auf die vorliegende noch dankbar zurückgreifen.

Zwei Fragen bleiben offen: Zum Ersten, ob Le Franc als humanistischer Autor zu gelten hat. Bejahend fallen die Antworten von Märtl und Schwitter aus, und es lassen sich, wie gesagt, in der Tat hierfür zahlreiche Belege und Zeugen von Platon über Cicero bis Enea Silvio Piccolomini finden; das steigert sich bisweilen gar zu einem »Feuerwerk humanistischer Anspielungen« (Märtl).

Im Übrigen fungierte der Autor, dessen offenkundige Verbundenheit mit Italien im Studium an einer dortigen Universität gründen könnte, seinerseits als einer der ob seiner exzellenten Kenntnis der Klassiker geschätzten Dialogpartner im »Libellus dialogorum« des Senesen, der mit seinem Werk wiederum eine szenische Vorbildfunktion für »Agreste otium« ausübte, das sich nach Schwitter als dramatischer Dialog humanistisch-antiker Prägung unter besonderem Einfluss der Quattrocento-Dialoge charakterisieren lässt (S. XXXVII, LXIII).

Allerdings sind die Themen des Werks selbst nicht gerade humanistische – bei »De bono mortis« mag man dagegen auf das Vorbild der antik-paganen Trostliteratur und die häufigen Anleihen zum Thema bei Philosophen des Altertums verweisen –, und hinter das entscheidende Kriterium der Meisterschaft in klassischer Latinität würde ich, mit der Zuerkennung solchen Prädikats als wichtigsten Momentums inzwischen etwas zögerlicher als seinerzeit in einer Studie über den französischen Frühhumanismus5, ein zumindest kleines Fragezeichen setzen – doch mögen darüber Kompetentere urteilen.

Die zweite, inhaltliche Frage: Im »Agreste otium« stehen, wie erwähnt, letztlich zwei Themen kaum verbunden nebeneinander: Lob und Kritik des Louis Aleman und damit auch des Basler Konzils sowie der Preis des regnum Franciae und seines Herrschers. Einziger Brückenschlag mag jener Anteil sein, den Aleman als Sprecher der verbliebenen Radikalkonziliaristen an den entscheidend von der französischen Krone bestimmten Konferenzen der Jahre 1447 bis 1449 hatte, die schließlich zu einem – für die Basler nicht zuletzt dank des Kardinals von Arles relativ glimpflichen – Ende der Synode und damit zur Kircheneinheit führten. Selbst der von den drei Diskutanten ihm gegenüber am kritischsten eingestellte Pierre Héronchel gesteht Aleman solches Verdienst zu in Übereinstimmung mit seinem konziliaristischen Widerpart Jean Bertonneau, Antoniterpräzeptor von Isenheim, und mit Martin Le Franc selbst, der im Streitgespräch eigentlich als Moderator und Mediator fungieren will, doch bisweilen eher den Positionen Héronchels zuneigt.

Während wir über Le Franc und Bertonneau als historische Persönlichkeiten relativ gut unterrichtet sind, ist von Héronchel kaum mehr bekannt, als dass er 1448/1449 am savoyischen Hof als Prinzenerzieher tätig war, sich als Dichter versuchte und wohl aus der Normandie stammte gleich Le Franc, der ihm schon jenen früheren Dialog über die »Consolatio mortis« widmete. Héronchel mag mithin als vom Autor präferierter Partner Eingang in das Werk gefunden haben (dessen Protagonisten natürlich nicht zwangsläufig Positionen vertreten haben müssen, die mit denen ihrer Pendants im »realen Leben« deckungsgleich waren).

Spielte hingegen bei dem Le Franc ebenfalls seit Langem bekannten Bertonneau weniger dessen prokonziliare Haltung denn seine genau für 1451 belegte Funktion als Rat des französischen Königs und des Dauphins eine Rolle? Suchte Le Franc nach dem Tod seines fürstlich-päpstlichen Gönners Amadeus-Felix im Januar 1451 am oder über den französischen Königshof eine neue Anstellung, woraus sich das hymnische Lob Frankreichs und dessen Herrschers erklären könnte? Doch ob man dort an langen Erörterungen pro und contra Arelatensis samt Aufzählung von dessen angeblichen Wundern sonderlich interessiert war, scheint zweifelhaft, und Le Franc sollte denn auch weiterhin an alter Wirkungsstätte, dem savoyischen Hof, seinen Unterhalt finden.

Oder hatte ihn vielmehr eine Sinnkrise, der Rückblick auf ein Jahrzehnt des Scheiterns, zur Feder greifen lassen, wofür die Nachricht von Alemans Tod im September 1450 den unmittelbaren Anlass gab? All diese Möglichkeiten sind bereits von Märtl und Schwitter erörtert worden, und rebus sic stantibus dürfte man kaum über die Erwägung solcher Möglichkeiten hinausgelangen, wie es im Übrigen auch schwer erklärlich scheint, dass Le Franc, der im »Champion« offen konziliaristische Positionen vertrat, dieses Werk und obendrein den »Estrif« ausgerechnet dem papstverbundenen Herzog von Burgund zueignete und jetzt möglicherweise einen französischen Hof anging, der ungeachtet gewisser landeskirchlich motivierter Sympathien für Konzil und Konziliarismus spätestens 1439 nach der Absetzung Eugens IV. durch die Basler auf Distanz zu einer Synode gegangen war, die sich unter der Führerschaft eines ohnehin Karl VII. und dessen Umgebung fernstehenden Aleman zunehmend ins Abseits manövrierte. Und warum hat Le Franc nicht die Frankreich feiernden Partien, und nur diese, direkt an den Monarchen adressiert? Man mag einfach nicht glauben, dass hier ein Bewerbungstollpatsch am Werk war, dem jegliches Einfühlungsvermögen abging.

Die Spezialforschung wird sich mit diesem Text also noch auseinandersetzen müssen bzw. dürfen – denn erst dank Märtl und Schwitter ist er ja überhaupt zugänglich geworden –, was schließlich Gelegenheit gibt, auf die ebenso dringliche wie lohnende Notwendigkeit einer Biografie Alemans hinzuweisen. Die 1904 von Gabriel Pérouse vorgelegte Arbeit »Le cardinal Louis Aleman et la fin du Grand Schisme« stellt zwar eine für ihre Zeit bemerkenswerte Leistung dar, aber nach mehr als einem Jahrhundert fortschreitender Quellenerschließung und Forschung, deren jüngstes Zeugnis die anzuzeigende Edition darstellt, wäre eine Synthese überfällig, die ja zugleich für die zweite Hälfte der – noch immer ungeschriebenen! – Geschichte des Basiliense wie für die ersten Jahre »nach dem Basler Konzil«6 ihre Bedeutung hätte und obendrein im Zuge der Auswertung und Zusammenschau des gesamten Materials vielleicht auch Antworten auf die hier erörterten Fragen liefern könnte.

Notes

[1] Claudia Märtl, Dialogische Annäherung an eine Bewertung des Basler Konzils. Zu einem unbekannten Werk des Martin Le Franc, in: Heribert Müller (Hg.), Das Ende des konziliaren Zeitalters (1440–1450). Versuch einer Bilanz, München 2012 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 86), S. 29–55. 1976 behauptete André de Mandach, einen von Le Franc vor Dezember 1439 verfassten lateinischen Traktat über den Vorrang der Eloquenz vor der Rhetorik in laudibus illustrissimi gloriosissimi Amadei Sabaudiae ducis gefunden zu haben, dessen Ausgabe er vorbereite. Auf diese Ankündigung in einem Artikel, dessen Titel bereits Skepsis erweckt, folgte meines Wissens nie eine Edition; André de Mandach, À propos de cet impénétrable Kissinger du XVe siècle que fut Amédée VIII – Félix V: la tapisserie de son apothéose pontificale retrouvée à Berne, in: Publications du Centre européen d’études burgondo-médianes 17 (1976), S. 109–121, hier S. 110.

[2] Inzwischen hat Schwitter sich erneut einer antiken Thematik zugewandt, da er im Rahmen einer Habilitationsschrift an der Universität Eichstätt-Ingolstadt unter dem Titel »Antiquare und ihr Archiv« über Gelehrte handelt, die in der Hoch- und Spätantike Ursprung und Entwicklung römischer Bräuche erforschten.

[3] Vgl. S. XXII Anm. 75, XCV. Der Straßburger Fund ist Stephen Mossman, Lecturer in Medieval History an der Universität Manchester, zu verdanken, der sich seit Längerem mit literarischen Zeugnissen spätmittelalterlicher Spiritualität am Oberrhein unter besonderem Blick auf Straßburg beschäftigt.

[4] So bleibt die (Nicht)Nennung von Reihen, Festschriften oder Nachdrucken bei der Zitierung von Titeln dem Zufall überlassen; Flüchtigkeiten wie die Angabe der Herausgeber des Bands »Diffusion des Humanismus« mit Johannes Helmrath und Walther Muhlack (vgl. S. CXXIII, recte hier Anm. 5) sind keine Seltenheit.

[5] Heribert Müller, Der französische Frühhumanismus um 1400. Patriotismus, Propaganda und Historiographie, in: Johannes Helmrath, Ulrich Muhlack, Gerrit Walther (Hg.), Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, S. 319–376; Nachdruck in: Heribert Müller, Frankreich, Burgund und das Reich im späten Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Gabriele Annas u. a., Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 56), S. 156–203.

[6] Vgl. Jürgen Dendorfer, Claudia Märtl (Hg.), Nach dem Basler Konzil. Die Neuordnung der Kirche zwischen Konziliarismus und monarchischem Papat (ca. 1450–1475), Münster u. a. 2008 (Pluralisierung und Autorität, 13).