»Coopétition« – wem dieser Neologismus im geschichtswissenschaftlichen Kontext neu ist, wird gleich durch den Untertitel des von Régine Le Jan, Geneviève Bührer-Thierry und Stefano Gasparri verantworteten Sammelbandes »Rivaliser, coopérer dans les sociétés du haut Moyen Âge (500–1100)« auf die richtige Spur gebracht. Es geht also um die Grundzüge der frühmittelalterlichen Gesellschaft im dynamischen Wechselspiel zwischen Rivalität, Wettbewerb, Konkurrenz und Konflikt auf der einen und Eintracht, Zusammenarbeit, Kooperation und Konsens auf der anderen Seite. Der vorliegende Band ist gleichzeitig Abschluss eines internationalen Forschungsprogramms zur »compétition dans les sociétés du haut Moyen Âge« und gelungener – so viel sei vorweggenommen – Versuch der Einführung des aus den englischsprachigen Wirtschaftswissenschaften übernommenen Begriffs der »coopétition/coopetition/Koopetition« (Amalgam aus »cooperation« und »competition«) in die Mediävistik. Die Herausgeberinnen und der Herausgeber versammeln mit Einleitung und Zusammenfassung zwei Dutzend Beiträge auf Französisch, Englisch und Italienisch, nebst englischen Kurzzusammenfassungen sowie einem Orts- und Personenregister.
Unter »coopétition« sollen im frühmittelalterlichen Kontext die Strategien zur Einhegung sozialer Konflikte u. a. zur Wahrung des gesellschaftlichen Status quo und die Modi der Kooperation mit ›natürlichen‹ Konkurrenten und Rivalen verstanden werden, wie Régine Le Jan einleitend ausführt. In den folgenden Beiträgen geht es nicht um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen »coopétition«, sondern der Quellenlage und der Ausrichtung des Forschungsprogramms geschuldet vor allem um die Eliten und obersten Herrschaftsträger.
Der Band gliedert sich in drei Abschnitte, die die Jahre 550 bis 650, das 9. Jahrhundert und die Jahre 1050 bis 1120 umfassen. Dabei handle es sich um »des périodes de crise ou des périodes d’équilibre«, hier lasse sich die schwankende Intensität der Koopetition am besten bemessen, beeinflusst durch das eher kompetitive bzw. kooperative gesellschaftliche Grundklima (S. 18). Der Mehrwert dieses Zuschnitts ist begrenzt, zeigen doch alle drei Perioden je nach Blickwinkel sowohl Elemente der Krise als auch der Stabilität unterschiedlichen Grades (S. 19f.), was man ebenso fallweise wohl auch von den ausgesparten Phasen behaupten könnte.
Im ersten der acht Beiträge des ersten Teils beleuchtet Verena Epp die Konkurrenzen und Kooperationen von Senatoren, Militärs und Eunuchen sowie paganer und christlicher Gruppen am Hof des byzantinischen Kaisers, der selbst vom Wettbewerb der Eliten zu profitieren suchte. Stefano Gasparri verhilft das Konzept der Koopetition zu einem neuen Blick auf das Zusammenleben im Langobardenreich, der ihn jenseits des durch die Forschung bisher a priori postulierten schroffen Gegensatzes zwischen Langobarden, Byzantinern und italienischer Bevölkerung zahlreiche Formen der Zusammenarbeit erkennen lässt. Ähnlich einleuchtend ist außerdem der Vorschlag Thomas Lienhards, die merowingische Teilungspraxis als Ausdruck einer Form der Koopetition zu begreifen. Hervorzuheben ist zudem die metareflexive Funktion des Beitrags von Hans-Werner Goetz, der nach der Wahrnehmung von Koopetition am Beispiel Gregors von Tours fragt und zu dem Ergebnis kommt, dass die merowingischen Zeitgenossen wohl kompetitive und kooperative Konstellationen situativ und konkret registrierten, sie allerdings nicht in einem abstrakten Sinn als Konflikt bzw. Kooperation kategorisierten. Des Weiteren befasst sich Bruno Dumézil mit den wechselnden Bündnissen und Konflikten der austrasischen Eliten während der Herrschaft des minderjährigen Königs Childebert II. und Adrien Bayard mit den Machtnetzwerken der civitas Clermont in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Zwei Beiträge der Sektion konzentrieren sich vor allem auf die klerikale Sphäre: Charles Mériaux untersucht die Konkurrenzverhältnisse innerhalb des merowingischen Episkopats, und zum Abschluss widmet sich Ian Wood Formen klösterlicher Rivalität bei Jonas von Bobbio.
Das 9. Jahrhundert wird durch sechs Aufsätze repräsentiert. Programmatisch hilfreich in Bezug auf die Analyse frühmittelalterlicher Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse mit Hilfe des Konzepts der Koopetition ist vor allem der Beitrag von Alban Gautier, der Alfred den Großen und seine Beziehung zu den Wikingern ins Zentrum rückt und wechselnde koopetitive Strategien des Herrschers aufzeigen kann. Martin Gravel liefert eine Fallstudie zu Lupus’ von Ferrières Verhältnis zu seinem König Karl dem Kahlen, das durchaus auch durch konfrontative Taktiken geprägt war. Den für Fragen nach Formen der Koopetition der Eliten zentralen Begriff der fidelitas behandelt Warren Pezé im Kontext der Reaktionen auf die innerdynastische Konkurrenz der Karolinger nach dem Tod Ludwigs des Frommen. Tiziana Lazarri widmet sich ebenso wie Igor Santos Salazar Wettbewerbsverhältnissen innerhalb frühmittelalterlicher Eliten – erstere am Beispiel der Rivalität zwischen Bischof Wicbod von Parma und Ubaldus, einem Gefolgsmann Karls des Dicken, in Italien, letzterer anhand der Konkurrenz zahlreicher militärischer Anführer bei der Verteidigung der nordöstlichen Grenze im spanischen Asturien. Marco Stoffella analysiert schließlich die Rolle von Testamenten und Formen der Kollaboration und Konfrontation zwischen dispensatores, Begünstigten und Nicht-Begünstigten im karolingischen Italien.
In der dritten Sektion bieten vor allem die Beiträge von Charles West zur Beziehung dreier Konvente des Moseltals zur weltlichen Oberschicht, von Geneviève Bührer-Thierry zur sächsischen Aristokratie unter Heinrich IV., von Christopher Loveluck zur sozialen Formierung urbaner Zentren im nordwestlichen Europa und von Lucie Malbos zu norwegischem Königtum, Adel und Kirche die Möglichkeit, auch allgemeinere Überlegungen zur Rolle koopetitiver Elemente in der Organisation mittelalterlicher Eliten und Herrschaft abzuleiten. Personen oder Institutionen, die im weitesten Sinne als Mediatoren fungieren und damit Spannungen ableiten bzw. schüren können, treten bei Florian Mazel (päpstliche Interventionen bei Erbkonflikten im Anjou, Katalonien und der Provence), Vito Loré (Entstehung des Königreichs Sizilien), Stéphane Gioanni (Rolle des kroatischen Königtums) und Adam Kosto (Fragmentierung des politischen Raumes auf der Iberischen Halbinsel) in unterschiedlichen Spielarten und Konstellationen auf.
Abgeschlossen wird der Band durch ein Fazit Chris Wickhams, in dem er vor allem das heuristische Potenzial des Konzepts der Koopetition bei der Erforschung frühmittelalterlicher Gesellschaften betont. Dieser Bilanz wird man sich nach der Lektüre des Bandes anschließen dürfen, dafür stehen die versammelten Beiträge auf eindrucksvolle Weise ein. Einzig eine Positionierung von Koopetition in Bezug auf das Konzept der »konsensualen Herrschaft«1 könnte man (aus mitteleuropäischer Perspektive) vermissen. Zur Beantwortung von Fragen nach vormodernen Macht- wie Herrschaftsstrukturen und Aushandlungsprozessen der Eliten erschiene zudem ein transkulturell vergleichender Ansatz im Hinblick auf die Frage der Koopetition über die Grenzen Europas hinaus vielversprechend. Nach diesem erfolgreichen Aufschlag wird es nun Aufgabe der Forschung sein, dass in Zukunft dieser Anstoß zu nuancierter theoretischer Differenzierung und breiter programmatischer Anwendung des Konzepts auch in Form monografischer Fallstudien aufgenommen wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Hendrik Hess, Rezension von/compte rendu de: Régine Le Jan, Geneviève Bührer-Thierry, Stefano Gasparri (dir.), Coopétition. Rivaliser, coopérer dans les sociétés du haut Moyen Âge (500–1100), Turnhout (Brepols) 2018, 424 p., 2 n/b ill. (Haut Moyen Âge, 31), ISBN 978-2-503-57634-3, EUR 80,00., in: Francia-Recensio 2019/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59848