Eines der am weitesten verbreiteten Werke des Mittelalters trägt den vielsagenden Titel »Secretum Secretorum«. Es hatte einen immensen Einfluss von mindestens dem 10. bis hin zum 17. Jahrhundert. Dieser pseudo-aristotelische Text wurde nicht nur in Mittel- und Westeuropa gelesen, sondern auch in Skandinavien, den slawischen Ländern Osteuropas, in Nordafrika und im Nahen Osten. Das »Secretum Secretorum« enthält neben einer moralischen und politischen Komponente – das Werk ist als langer Brief von Aristoteles an Alexander den Großen angelegt – viele verschiedene Informationen zu den Bereichen Astrologie, Physiognomie, Alchemie und Magie sowie einige sehr detaillierte medizinische Abschnitte. Der enzyklopädische Charakter und die Aura des Geheimen trugen maßgeblich zum großen Erfolg (insgesamt sind etwa 500 Manuskripte der verschiedenen Versionen überliefert) der Schrift bei.
Die Faszination des Geheimen und die Versuche ihrer Enthüllung waren auch Schwerpunkt einer Tagung der Fédération internationale des instituts d’études médiévales im Juni 2013, auf die der vorliegende Band zurückgeht. Bereits in der sehr knappen Einleitung von José Meirinhos wird die große Bandbreite der Themen, die sich mehr oder weniger eng an das Tagungsmotto anschließen, deutlich gemacht. Diese Vielfalt schlägt sich auch in der Gliederung des 489 Seiten starken Bandes nieder, die wohl der Konstruktion der Tagung entspricht. Dabei hätte man die vier »Plenary Lectures« durchaus auch den für die »Section Papers« vorgesehenen elf Subkategorien zuordnen können. Denn mit Ausnahme des Beitrags von Pascale Bourgain, der die mittelalterliche Suche nach einer Erkenntnis des göttlichen Willens sowie der scheinbar undurchschaubaren Absichten Gottes in den Blick nimmt, beschäftigen sich die übrigen Artikel doch eher mit spezielleren Themenbereichen, so wie es auch in den aus je zwei bis vier Beiträgen bestehenden Abschnitten der »Section Papers« gehandhabt wird.
Im ersten Abschnitt, der »Nature and Knowledge« betitelt ist, analysiert Constantin Teleanu das demonstrative Aufdecken von Geheimnissen als Strategie im Werk »Ars inventiva veritatis« des Raimundus Lullus aus dem Jahr 1291, während Isabel Mata Wissen und Leben auf einem spanisch-hebräischen Grabstein aus dem 16. Jahrhundert in einem eher philologischen Zugriff untersucht. Ähnlich divergent sind die Beiträge, die in den folgenden Kategorien angeordnet wurden. Im Abschnitt »Prophecy and Eschatology« zeigt Oscar Prieto Domínguez anhand überzeugend gewählter Beispiele, wie Heiligkeit durch die prophetische Gabe in verschiedenen hagiografischen Schulen in Griechenland konstruiert wurde bzw. wie sich diese Schulen durch die Analyse einer solchen Konstruktion von Heiligkeit identifizieren lassen.
Helena Avelar de Carvalho führt astrologisches Wissen als geheimes Wissen ein, da es nur gebildeten Menschen zur Verfügung stand. Anhand dreier Chroniken aus dem Spätmittelalter wird Astrologie am portugiesischen Königshof vorgestellt. Dabei wird neben den Zukunftsvorhersagen auch der unterschiedliche Umgang mit der Frage nach Determiniertheit und freiem Willen herausgearbeitet.
Im folgenden Abschnitt, »Relics and Secrecy«, werden Reliquien in ihrer literarischen Überformung und in ihrer historischen Wirklichkeit dargestellt. Im Abschnitt »Woman’s Secrets« wird im Beitrag von Sara Segovia Esteban die Rolle einer Mittlerin (muliercula oder obsterix) zwischen Patientin und Arzt beschrieben, die durch die Verlegenheit der Frau gegenüber ihrem Genitalbereich nötig wurde; vielfach wurde das Wort secretum auch für bestimmte weibliche Krankheiten verwendet (S. 264). In den übrigen Abschnitten »Secrets of the Religious Life«, »Government and Diplomacy«, »Medieval Arts«, »Unknown Worlds and Travel Literature«, »Literary Secrets« sowie »Philology and Texts’ Transmission« wird das Geheime ebenfalls unterschiedlich stark thematisiert.
Hervorzuheben wäre noch der Beitrag von Pere Quetglas und Ana Goméz Rabal, die Geheimnis als etwas verstehen, das vor indiskreten Blicken, auch zum Schutz, gleichsam beiseite gelegt wurde, oftmals aber dennoch ans Tageslicht kam (S. 391). In diesem Sinne werden Rechtstexte vorgestellt, die solche menschlichen »Geheimnisse« bergen.
Der letzte Abschnitt des Bandes befasst sich schließlich dezidiert mit dem zweiten Teil des Titels, dem Aufdecken. Dies wurde unter den Titel »Discovering the Classics« gefasst. In den ersten beiden Beiträgen steht die Ovid-Figur im Mittelpunkt, die lange Zeit nur im Geheimen rezipiert werden konnte. Im letzten Beitrag des Sammelbandes wird das »epische« Ausmaß der Entdeckung klassischer Codices durch die Humanisten beschrieben. Ein Index der besprochenen Manuskripte sowie von historischen und modernen Autoren beschließt den Band.
Insgesamt bietet der Tagungsband einen Aufriss verschiedener Facetten des Geheimen im Mittelalter. Es ist sicher kein leichtes Unterfangen, einer groß angelegten Tagung in Buchform Kohärenz abzuringen, doch wäre zumindest eine überblickende Zusammenschau wünschenswert gewesen. Dort hätte man das sehr unterschiedliche Verständnis von »Geheimnis« thematisieren können, das im Band sehr auffällig ist und das man durchaus als ein Ergebnis hätte hervorheben können. Auch unberücksichtigte Aspekte des Geheimen (z. B. Mantik und Magie) hätte man ansprechen können. Zudem hätte es zu einer größeren Benutzerfreundlichkeit beigetragen, wenn man den in Spanisch, Portugiesisch, Französisch und Englisch verfassten Beiträgen noch jeweils einen kurzen Abstract in einheitlicher Sprache spendiert hätte. So wirkt das Kompendium wie eine mitunter etwas willkürlich zusammengebrachte Sammlung von Einzelstudien zu einem durchaus interessanten und vielversprechenden Forschungsthema.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Hans-Christian Lehner, Rezension von/compte rendu de: José Meirinhos, Celia López Alcade, Joao Rebalde (ed.), Secrets and Discovery in the Middle Ages. Proceedings of the 5th European Congress of the Fédération internationale des instituts d’études médiévales (Porto, 25th to 29th June 2013), Turnhout (Brepols) 2017, XV–489 p., 10 b/w ill., 10 tabl. (Textes et études du Moyen Âge, 90), ISBN 978-2-503-57745-6, EUR 65,00., in: Francia-Recensio 2019/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.59855