Die zweisprachige Publikation »Le patrimoine, un enjeu de la Grande Guerre«/»Der Kulturerbeschutz als Herausforderung im Ersten Weltkrieg« geht auf ein Kolloquium an der Université d’Artois in Arras im März 2015 zurück, das sich mit Kunstschutz, Kunstgeschichte und Archäologie am Ende des Ersten Weltkrieges auseinandersetzte und an die Forschungen zum deutschen Kunstschutz im Ersten Weltkrieg anknüpfte. Gegründet, um nach den Kriegszerstörungen in Löwen und Reims die internationale Kritik an der »deutschen Kulturbarbarei« zu entkräften, unternahm der deutsche Kunstschutz in Belgien und Nordfrankreich Maßnahmen zum Schutz von Denkmälern und beweglichen Kulturgütern, führte aber auch kunsthistorische und archäologische Forschungen wie z. B. Fotokampagnen zur Erfassung von Denkmälern durch und eignete sich das besetzte Gebiet auf diese Weise kulturell an. Das Spannungsfeld zwischen vermeintlich »unpolitischer« Wissenschaft, Krieg und Propaganda, in dem sich der Kunstschutz bewegte, wurde erstmals von Christina Kott untersucht1. Der vorliegende Tagungsband will den Forschungsstand zum Kunstschutz2 um französische Perspektiven auf Akteure und das Verhältnis von Wissenschaft und Kunstpolitik während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren erweitern.
Fast alle Beiträge zum Kunstschutz während des Krieges greifen die Dimension der kulturellen Aneignung besetzter Gebiete durch Denkmalschutz, wissenschaftliche Erschließungskampagnen oder Publizistik auf. Wie diese Aneignung zum Ausdruck kam und wie sich bei diesen Aktivitäten individuelle (Forschungs-)Interessen und konzertierte Kulturpropaganda zueinander verhielten, untersuchen die Autor*innen wahlweise anhand der Biografien und Forschungsprojekte zentraler Akteure oder über die Erschließung spezifischer Quellengattungen wie Fotos oder zeitgenössischer Publizistik.
Einen biografischen Zugriff wählen etwa Raphaël Clotuche und Julien Trapp. Clotuche skizziert die Karrieren der Archäologen Gerhard Bersu und Wilhelm Unverzagt, analysiert exemplarisch Unverzagts Ausgrabungen an den spätrömischen Befestigungen von Famars und zeigt auf, dass dessen archäologische Befunde auch durch neuere Ausgrabungen nicht widerlegt wurden. Allerdings versäumt Clotuche es, Unverzagts Ausgrabungen stärker historisch zu kontextualisieren. So deutet er zwar an, dass Unverzagt mit einer »germanischen« Lesart bestimmter Keramiken die deutsche militärische Präsenz im Ausgrabungsgebiet historisch gerechtfertigt haben soll (S. 19). Ob die Belegstelle ein Einzelfall war oder völkische Deutungsmuster sich häufiger in Unverzagts Schriften wiederfinden und somit auch seine Interpretation der Befestigungen von Famars färbten, lässt Clotuche jedoch offen. Trapp wiederum beleuchtet die Rolle des deutschen Philologen Johann Baptist Keune für die Museen der Stadt Metz vor und während des Ersten Weltkrieges und fragt, wie Keunes persönliches Engagement für den Kunst- und Denkmalschutz sich im Spannungsfeld von genuinen Schutzinteressen und der propagandistischen Instrumentalisierung von Schutzmaßnahmen verorten lässt (S. 44–45).
Eine akteursbezogene Fragestellung formuliert auch Susanne Dörler, die die Rolle des Marburger Kunsthistorikers Richard Hamann für die Kampagnen des Bildarchivs Foto Marburg analysiert. Hamann galt als einer der produktivsten Fotografen der 1917–1918 in Belgien und Nordfrankreich durchgeführten Kampagne, verfolgte dabei allerdings individuelle Forschungsinteressen, wodurch er wiederholt die Arbeits- und Zeitpläne der Kampagne gefährdete. Tatsächlich ist die Wahrung persönlicher – wissenschaftlicher oder kommerzieller – Interessen ebenso bei anderen Mitarbeitern der Fotokampagne feststellbar. Da diese Interessen sich auch in den Fotonegativen aus den Kampagnen widerspiegeln, argumentiert Dörler überzeugend dafür, die Metadaten der in den Kampagnen produzierten Negative stärker in Analysen einzubeziehen und so das Fotomaterial für neue Fragestellungen fruchtbar zu machen (S. 152–155).
Markus Kohl setzt sich mit den Veröffentlichungen von im französischen Bapaume stationierten deutschen Soldaten und Offizieren auseinander, um die deutsche Wahrnehmung des französischen Kulturerbes bei Nicht-Kunstschutz-Mitgliedern fassbar zu machen. In Artikeln für die Soldatenzeitschrift »Der Schützengraben«, Taschenbüchern und Fotoalben erschlossen die Soldaten sich die Kunst- und Kulturgeschichte und das materielle Kulturerbe der besetzten Gebiete und leiteten daraus Forderungen nach einem Schutz vor Zerstörungen durch den Kriegsgegner her. Ihre Argumentationen ähnelten denen des institutionellen Kunstschutzes, waren allerdings nicht Ausdruck einer koordinierten deutschen Kulturpropaganda, sondern gingen auf individuelle Initiativen zurück (S. 120). Kohl zeigt somit eindrücklich, dass das Thema Kulturgüterschutz nicht nur Anliegen von Experten war, sondern auch von Laien thematisiert wurde.
Der Beitrag von Anne Labourdette zum Museum in Douai in den Jahren 1914–1918 sticht durch seinen institutionengeschichtlichen Fokus hervor (S. 73–85). Allerdings stützt sich der Abriss über die teilweise Evakuierung der Sammlungen nach Valenciennes sowie die Plünderungen der in Douai zurückgebliebenen Sammlungsteile im Jahre 1918 stark auf die Forschungen von Christina Kott, ohne ihnen viel Neues hinzuzufügen3.
Eine Vergleichsperspektive zur Situation in Belgien und Frankreich eröffnen die Beiträge von Beate Störtkuhl und Andrzej Nieuwasżny, die sich mit der Situation in Polen befassen. Störtkuhl untersucht die Rolle deutscher Kunsthistoriker im 1915–1918 unter deutscher Zivilverwaltung stehenden Generalgouvernement Warschau. Während der Kunstschutz in Belgien und Frankreich auf gefestigte Verwaltungsstrukturen traf, hatte der Zusammenbruch des Zarenreichs in Polen ein Machtvakuum verursacht, sodass der Kunstschutz hier je nach Präsenz nationaler Bewegungen unterschiedliche Arten von Kooperationen mit lokalen Akteuren einging. Kennzeichnend für die publizistische Erschließung des besetzten Territoriums in Polen waren das Stereotyp der Entdeckung einer »terra incognita« und die Reklamierung deutscher Kunst- und Kultureinflüsse, die auch über 1918 hinaus in der sogenannten »Deutschtumsforschung« intensiviert werden sollten (S. 183–189).
Da Andrzej Nieuwasżny kurz nach dem Kolloquium verstarb, entschieden sich die Herausgeber des Tagungsbandes dafür, eine Zusammenfassung seines Vortrags zu veröffentlichen. In seinem Beitrag zeichnete Nieuwaszny die auf den polnisch-sowjetischen Konflikt zurückgegangenen Kriegszerstörungen in Galizien, sowjetische Abtransporte von Kulturgütern und polnische Restitutionsbemühungen in den 1920er Jahren nach (S. 213–216).
Maria Obenaus, Valentine Gay und Pierre Leveau schließlich beleuchten das Verhältnis von Kunst, Recht und Politik am Ende des Ersten Weltkriegs und die Rolle von Kulturgütern in Debatten um Reparationen, Entschädigungen und transnationalem Kulturgütertransfer. Obenaus zeigt, dass die Grundlagen für die 1919 in Deutschland verabschiedete Verordnung über die Ausfuhr von Kunstwerken während des Ersten Weltkrieges vorbereitet wurden: Die Preissteigerung auf dem Kunstmarkt rief Stimmen auf den Plan, die die Abwanderung bedeutender Kunstwerke aus Privatbesitz ins Ausland befürchteten und deshalb eine Reglementierung privater Kunstausfuhren aus Deutschland forderten. Die das Kriegsende begleitenden Debatten um die Verwendung von Kunst als Kriegsentschädigung und das zeitgleiche Bedrohungsszenario des Verlusts der Kunstsammlungen entmachteter Fürsten befeuerten diese Befürchtungen, sodass mit der 1919 verabschiedeten Verordnung über die Ausfuhr von Kulturgütern ein »Verzeichnis der national wertvollen Kunstwerke«, die nicht ins Ausland ausgeführt werden durften, etabliert wurde (S. 233–238).
Auf die Nutzung von Kulturgütern als Kriegsentschädigungen kommt auch Valentine Gay zurück, die die Positionen französischer Kunsthistoriker in der Reparationsdebatte nachzeichnet (S. 257–269). Leveau schließlich befasst sich aus rechtshistorischer Perspektive mit der Frage, wie sich das Völkerrecht in der Zwischenkriegszeit mit Fragen des Kulturgüterschutzes auseinandersetzte (S. 287–298).
Die zehn Beiträge setzen durch ihren mikrohistorischen Zugriff bei den Leserinnen und Lesern bereits vorhandenes Kontextwissen über die Institution des Kunstschutzes voraus, zumal das Vorwort und die Einführung der Herausgeber des Tagungsbandes sehr kurz ausfallen. Erst das Fazit des Bandes (S. 315–329), das eine umfassende Historisierung der Entwicklung des Denkmal- und Kulturgüterschutzes seit 1800 vornimmt, ordnet die Beiträge in einen größeren Kontext ein. Für die Lesbarkeit des Bandes wäre es sinnvoller gewesen, dieses Fazit als Einführung zu verwenden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Emily Löffler, Rezension von/compte rendu de: Laurence Baudoux-Rousseau, Michel-Pierre Chélini, Charles Giry-Deloison (dir.), Le patrimoine, un enjeu de la Grande guerre. Art et archéologie dans les territoires occupés 1914–1921/Der Kulturerbeschutz als Herausforderung im Ersten Weltkrieg. Kunst und Archäologie in den besetzten Gebieten 1914–1921. Traductions de/Übersetzungen von Françoise Chasselat et Renate Heckendorff, Arras (Artois Presses Université) 2018, 382 p. nombr. ill. (Histoire), ISBN 978-2-84832-319-0, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60001