Die Großstädte der Jahrhundertwende haben zahlreiche Figuren, Topoi und Bilder hervorgebracht, die bis heute die Wahrnehmung dieser Zeit, aber auch der Städte selbst prägen: Die großen Boulevards, die Passagen und der Flaneur, der taumelnde Rausch, Vergnügen und Elend, die frühe Elektrizität gehören zu den gängigen Assoziationen, die diese Städte aufrufen. Zu ihnen gehört auch der Topos vom Wahnsinn der Großstadt. Dieser bezieht sich einerseits auf die krankmachenden Seiten der Großstadt, das Laute und Hektische, die Überfüllung, die Lebensverhältnisse, die prekäre Arbeitssituation in den Städten; er impliziert andererseits die Vorstellung, dass die Großstadt aufgrund der Anonymität, dem Mangel an sozialem Zusammenhalt und der breiteren Akzeptanz des Exzentrischen und Abweichenden auch den Wahnsinnigen einen Raum gibt, sich öffentlich zu entfalten.
An dieser Stelle hakt der Band von Beate Binder, Cornelius Borck und Volker Hess ein, dessen Titel »Wahnsinnsgefüge der urbanen Moderne. Räume, Routinen und Störungen 1870–1930« bereits andeutet, worum es den hier versammelten Autorinnen und Autoren gehen soll: Einerseits werden Topoi und Narrative der Großstadt mit Blick auf ihre (psychiatrischen) Ordnungs- und Normalitätsvorstellungen bzw. die Verstöße gegen diese Vorstellungen hin aufgebrochen und analysiert; andererseits werden die »Gefüge«, also die räumlichen und verwaltenden Strukturen, die den Umgang mit der Störung der Ordnung regeln, näher betrachtet.
Die Frage nach den Räumen, Routinen und Störungen ordnet auch den Band selbst: Jeweils vier Beiträge werden unter einer leitenden Fragestellung zu einer der drei Kategorien versammelt und in der Einleitung der Herausgeber zusammengefasst. Hervorgegangen ist der Band aus dem längeren gemeinsamen Denk- und Arbeitsprozess in der DFG-geförderten Forschungsgruppe »Kulturen des Wahnsinns. Schwellenphänomene einer urbanen Moderne, 1870–1930«, der die Autorinnen und Autoren – darunter Medizinhistoriker, Kulturanthropologen, Kulturwissenschaftler und Ethnologen – angehören; eine Verbindung, die man dem bereits vierten Band dieser Forschergruppe positiv anmerkt.
Spezifiziert wird der Begriff der Räume, unter dem die ersten vier Beiträge versammelt sind, als »Räume der Erregung«. Dadurch wird es möglich, auf den ersten Blick unterschiedliche Phänomene und Figuren wie die Großstadtreportage, den Kokainkonsum, die Börsenspekulation und die Prostituierte nebeneinanderzustellen und ihre Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. In allen Beiträgen geht es um die Entdeckung und Analyse der imaginären Räume, die sich über die realen bzw. sozialen Räume lagern und gemeinsam den Diskurs bestimmen, ob beim Durchstreifen der Großstadt, beim Beschreiben der Kokainszene, der Börse oder der Vergnügungsviertel um Ku’damm und Friedrichstraße. Die Räume der Stadt sind Bühne für Emotionalität und Theatralität, wie Dorothea Dornhof in ihrer Analyse der Börse zeigt; sie dienen aber auch dem Erproben und Verhandeln von (illegalen) Praktiken wie dem Drogenkonsum oder gesellschaftlich stigmatisierter Bereiche wie der Sexualität, wie es Anne Gnausch und Beate Binder herausarbeiten.
Immanent sind dem Prozess des Aushandelns und spielerischen Erprobens Prozesse der Abgrenzung und Einhegung: die Figuren und Räume werden pathologisiert und kriminalisiert oder, wie im Fall der Börse, von wirtschaftlichen Ordnungs- und Rationalitätsvorstellungen eingefangen. Auch die Stadt selbst wird im sozialökologischen Modell als Objekt der Wissenschaft entdeckt; bürgerliche Streifzüge durch ärmere Viertel stiften neue Perspektiven auf das Abseitige, Dunkle und Abweichende (Sven Bergmann).
Deutlich wird bereits hier das weitestmögliche Verständnis der Herausgeberin und der Herausgeber von Wahnsinn, mit dem sich diese von einem psychiatrisch-medizinischen Blick distanzieren (vgl. S. 9). Es ist interessant, dass der psychiatrische Diskurs dort wieder stärker als Untersuchungsgegenstand auftritt, wo es um Routinen und Abweichungen geht. In Beiträgen zur Psychiatrisierung des Suizids (Anne Gnausch/Volker Hess) und zur Hamburger Drogenszene (Stefan Wulf/Heinz-Peter Schmiedebach) wird aufgezeigt, wie unterstützt von Behörden und Polizei eine medizinisch-psychiatrische Versorgung in Berlin beziehungsweise Hamburg aufgebaut und etabliert wurde.
Die Stadt wird sichtbar als ausdifferenzierte Organisationseinheit und als System, das auf rasche und abgestimmte Abläufe angewiesen ist. In den folgenden Beiträgen nimmt die methodische Bezugnahme auf die Stadt ab. Dafür geht es nun mehr um die Gefüge und Diskurse, in denen Wahnsinn verhandelt und bestimmt wurde. Der Beitrag von Sonja Mählmann und Cornelius Borck über die ambivalente Rolle von Angehörigen in der Anstaltskommunikation weist auf die Bedeutung dieser »dritten« Partei zwischen Arzt und Patient hin, die erst spät im 20. Jahrhundert wiederentdeckt wird, während Johannes Kassar eine Diagnosegeschichte des epileptischen Dämmerzustands beisteuert.
Die Beiträge der letzten Sektion, die mit »Ordnungen der Störung« überschrieben ist, beschäftigen sich in unterschiedlichster Weise mit den soziokulturellen Unschärfen und Grenzbereichen, die von modernen Ordnungen erzeugt werden. Die Verschränkung zwischen kulturellen und gesellschaftlichen Ereignissen einerseits und psychiatrischen Diskursen andererseits wird insbesondere im Beitrag von Thomas Beddies und Judith Hahn sichtbar, der die Pathologisierung der Revolution von 1918 und ihrer Akteure untersucht. Der Verschränkung von jüdischem Selbsthass und Männlichkeitsvorstellungen widmet sich Gabriele Dietze. An verschiedenen öffentlich und privat geführten Auseinandersetzungen jüdischer Autoren zeigt sie die paradoxen Effekte, die jüdische Assimilierungsbestrebungen in einer Zeit wachsenden Antisemitismus hatten, als sich Konzepte von Heterosexualität und »deutscher« Männlichkeit gegenseitig (de)stabilisierten. Um kulturelle Ordnungsvorstellungen in der Kunst, Sprachwissenschaft und Psychiatrie geht es in den beiden abschließenden Beiträgen von Sophia Könemann und Armin Schäfer, die dem psychopathologischen Phänomen des »Fabulieren« nachgehen, und von Sabine Fastert, die die Kritik und den Einsatz von Mandalas als moderne Diskussion um Vorstellungen der »Mitte« analysiert, in der geometrische Ordnungsvorstellungen von expressionistischem Chaos herausgefordert und aufgebrochen wurden.
Der Band ermöglicht einen Blick auf die Entstehung von Routinen, Räumen und Figuren, die die »urbane Moderne« der Großstädte um die Jahrhundertwende prägten, ohne die bekannten Stereotype jedoch zu reproduzieren. Vor allem die Spiegelung unterschiedlicher Ordnungen und der im Entstehen begriffenen Strukturen im System der Stadt, die viele der Beiträge des Bandes vornehmen, liefert neue Perspektiven auf vermeintlich bekannte Figuren und Diskurse. Das »Neue«, das in den Städten erprobt wurde, wurde dort auch diskutiert und eingehegt. Wie die Entstehung bürgerlicher Ordnungen und (geordneter) Ausbrüche mit der Stadt als Raum und Milieu zusammenhing, darauf wirft dieser Band einen erhellenden Blick.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sandra Schmitt, Rezension von/compte rendu de: Beate Binder, Cornelius Borck, Volker Hess (Hg.), Wahnsinnsgefüge der urbanen Moderne. Räume, Routinen und Störungen 1870–1930, Wien, Köln, Weimar (Böhlau) 2018, 411 S., 17 Abb. (Kulturen des Wahnsinns [1870–1930], 4), ISBN 978-3-205-79422-6, EUR 45,00., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60006