Alain Corbins Arbeiten zeichnen sich – ganz in der Tradition der Annales-Schule – durch die Verbindung sorgfältiger Archivrecherchen mit innovativen theoretischen Fragestellungen aus. Zu Recht werden sie gerühmt als ebenso genussvolle wie anregende Lektüren. Am Ende seines ebenso facettenreichen wie vielstimmigen Œuvres widmet er sich nun – dem Schweigen.

Auch wenn eine allgemeine Geschichte des Schweigens bis heute aussteht, so liegen doch zahlreiche kulturhistorische Arbeiten zum Schweigen in Politik oder Religion, in Bildkunst, Musik, Theater oder Philosophie vor1. Corbins auch für ein allgemeineres Publikum gut lesbares Buch berührt all diese Felder, und doch will und kann es auf rund 200 Seiten keine umfassende Geschichte des Schweigens bieten. Wenn es trotzdem Neuland betritt, so weniger aufgrund seines fast ausschließlich auf literarischen Quellen basierenden Zugangs, sondern vielmehr weil seine »Histoire du silence« sich als eine sound history des Schweigens lesen lässt und damit ein Forschungsfeld eröffnet, das erstaunlicherweise noch weitgehend unberührt ist – auch wenn wichtige Wegbereiter- und bereiterinnen der recht jungen, aber höchst aktiven sound history wiederholt auf die Bedeutung von Stille und Schweigen hingewiesen haben.

So geht es Corbin um Stille und Schweigen als akustische Phänomene, die eine Vielzahl subtiler Klänge umfassen können. Gewissermaßen sensibilisiert er eingangs mit Paul Valéry die Leserinnen und Leser für das feine akustische Gewebe, zu dem diese Klänge sich verbinden: »Entends ce bruit fin qui est continu, et qui est le silence. Écoute ce que l’on entend lorsque rien ne se fait entendre«2. Stille wird nicht – wie dies oft geschieht – auf ein abstraktes, negatives Phänomen der Absenz reduziert. Vielmehr fasst Corbin sowohl die spezifischen »sounds of silence« als auch den Vorgang der Dämpfung oder des Ausbleibens von Klang als eine körperlich sich materialisierende Gestalt: Er leiht sein Ohr gleichermaßen der »positiven« wie der »negativen« Dimension der Stille.

Zugleich hebt er hervor, dass Stille und Schweigen als Modi der Interaktion zu begreifen sind. So widmen sich die beiden ersten Kapitel der sinnlichen und emotionalen Interaktion mit architektonischen Strukturen oder mit natürlichen Umwelten: Das erste Kapitel, »Le silence et l’intimité des lieux«, lauscht den unterschiedlichen Stillen, die sich in Privatzimmern des 19. Jahrhunderts, in Kirchen, Festungen, einfachen Häusern oder Hütten, Kliniken oder Gefängnissen entfalten, und Kapitel 2, »Les silences de la nature«, behandelt Wüsten, Gebirge, Ruinen bis hin zu tropischen Meeren oder der Nacht.

Der schweigenden Interaktion innerhalb sozialer Beziehungen gehen die folgenden Kapitel nach. Während Kapitel 4 (»Apprentissages et disciplines du silence«) die Erziehung zum gehorsamen, leidensfähigen oder gesitteten Schweigen in religiösen, schulischen und militärischen Institutionen, oder später in Strafanstalten, Krankenhäusern, öffentlichen Räumen und Verkehrsmitteln untersucht, widmet sich Kapitel 7 (»Les tactiques du silence«) unterschiedlichen Verschwiegenheitstaktiken: Als art de se taire firmieren sowohl die von höfischen Gesellschaften des 17. Jahrhunderts kultivierten Konversationslehren als auch deren Übertragung in bürgerliche Distinktionspraktiken des 19. Jahrhunderts; die bäuerliche Wortkargheit lässt sich ebenso als soziale Strategie wie als Artikulation einer Lebenswelt begreifen.

Im Zentrum von Kapitel 6 (»La parole du silence«) stehen Versuche, die Beziehung von gesprochenem Wort und Schweigen nicht als Gegensatz, sondern eher als chiastische Verschlingung zu begreifen, sowie die muta eloquentia der (stummen) Bildkunst. Kapitel 8 schildert unterschiedliche amouröse Schweigepraktiken, die als Initialzündungen oder Prüfsteine von Liebesbeziehungen dienen, deren tiefere Wahrheiten artikulieren, aber auch der Zerrüttung solcher Beziehungen und dem daraus resultierenden Hass eine oft erstaunliche Dauer verleihen können.

Ganz besonders gilt Corbins Interesse der schweigenden Interaktion mit sich selbst, immer wieder kommt er auf die hohe Wertschätzung zurück, die das »Hören auf sich« (»écoute de soi«) genoss. Ein solches Hören geht hervor aus Praktiken des Alleinseins, des Rückzugs und der Meditation, die in starkem Maße auf die religiöse Suche nach Stille zurückgehen (Kapitel 3, »Les quêtes du silence«, und 5, »Joseph et Nazareth ou l’absolu du silence«). Beispielhaft für das 16. und 17. Jahrhundert stellt Corbin die hohe Intensität der schweigenden Selbsttechniken (»associant maîtrise du silence et savoir postural«, S. 85) dar, durch die Gott – oder das Selbst – vernehmbar werden sollen. Das Schlusskapitel (»Le tragique du silence«) schließlich erinnert daran, dass das Schweigen auch Zweifel an Gottes Existenz, seinen Tod oder die humane Katastrophe artikulieren kann.

Die »Histoire du silence bietet« – auch wenn der Titel anderes suggeriert – keine umfassende (Sound )Geschichte des Schweigens. Corbin nimmt vielmehr Sondierungen vor, an die ein solches Unterfangen anknüpfen kann.

Zugleich gibt es Punkte, an denen es kritisch nachzufragen und weiterzudenken gilt: So durchzieht Corbins Buch zum einen die starke These vom Schwinden oder gar vom Verlust der Stille, bedingt durch die Geringschätzung, die Angst oder gar den Schrecken, mit dem Menschen des 20. Jahrhunderts ihr begegnen3. Hier wäre allerdings nach dem Auftreten verschiedener spezifisch moderner »Stillen« zu fragen, die eine solche kulturpessimistische These differenzieren, widerlegen oder unterfüttern könnten: Solche Stillen finden sich etwa in Experimentallaboren4, Archiven oder Büros, aber auch in Gefängnissen oder Folterlagern5, und sie werden oft mit erheblichem finanziellen, logistischen oder juristischen Aufwand hergestellt.

Mit Corbins Werken vertraute Leserinnen und Leser werden zum anderen die sozialen, kulturellen und politischen Spannungen und Kämpfe vermissen, wie sie frühere Sinnes- und Emotionengeschichten aus seiner Feder auszeichnen, die immer wieder verblüffende Einsichten vermitteln oder dazu anregen, festgefügte Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen. Liest man Corbin mit Corbin, so wäre ihm daher seine eigene – ältere – Kritik an einer literaturgeschichtlichen Verengung der Sinnesgeschichte entgegenzuhalten, wie sie die weitgehende Beschränkung auf literarische Zeugnisse mit sich bringt: Durch sie wird der »Historiker […] dazu verleitet, die Wirklichkeit des Sinnesgebrauchs mit dem von den Zeitzeugen vorgeschriebenen Bild dieses Gebrauchs zu verwechseln«6 oder »die sinnlichen Vorstellungen und Betätigungen wie auch die Gefühlsregungen derer zu überschätzen, die mutig und sprachgewandt genug sind, um ihre Wahrnehmungen, Eindrücke und Emotionen zu belauschen und auszusprechen«7.

Eine sound history des Schweigens, die Phänomenen der Stille in der Wissenschafts- oder der politischen Kulturgeschichte, aber auch der Sozial- und Alltagsgeschichte des Schweigens ihr Gehör leiht, würde vielversprechende Forschungsfelder eröffnen. So könnten etwa die Gender Studies8 über die von Corbin eindrücklich ausgelotete Rolle des Schweigens innerhalb heteronormativer Liebes- oder Hassbeziehungen hinaus danach fragen, welche Schweigepraktiken der Etablierung, Aufrechterhaltung oder dem Wandel binärhierarchischer Geschlechterregimes und ihrer Ausschlussverfahren dienten: Wie navigier(t)en Frauen unterschiedlicher sozialer Klassen zwischen den sozialen Stereotypen der Klatschsucht und weiblichen Verschwiegenheitsidealen? Oder welche Bedeutung kam dem Schweigen in Männerbünden und -netzwerken zu, von der Jagd über das Militär bis hin zu politischen »Saunafreundschaften«?

Solche und andere Kulturgeschichten des Schweigens, die mit Corbin ihre Ohren schärfen, stellen eine theoretische wie methodische Herausforderung für die historischen Disziplinen dar. Und sie versprechen wertvolle Impulse und Anregungen – weit über die Sinnesgeschichte hinaus.

1 Einen Überblick geben Ana María Ochoa Gautier, Silence, in: David Novak, Matt Sakakeeny (Hg.), Keywords in Sound, Durham, London 2015, S. 183–192; Karsten Lichau, Stille, in: Daniel Morat, Hansjakob Ziemer (Hg.), Handbuch Sound, Stuttgart 2018, S. 217–222; dort auch weiterführende Literatur.
2 Paul Valéry, Tel quel (1941/43), zit. n. Corbin, Histoire du silence, S. 13.
3 Anders als Emily Thompson, The Soundscape of Modernity. Architectural Acoustics and the Culture of Listening in America, 1900–1933, Cambridge, MA 2002, oder Raymond Murray Schafer, The Soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester, VT 1994 führt er diese weniger auf die Industrialisierung als auf die »hypermédiatisation« (S. 11) durch die modernen Kommunikationsmedien zurück.
4 Henning Schmidgen, Camera silenta. Über Organlosigkeit in Zeitexperimenten um 1900, in: Bernhard J. Dotzler, Sigrid Weigel (Hg.), »fülle der combination«. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München 2005, S. 51–74.
5 Vgl. hierzu Morag Josephine Grant, Pathways to Music Torture, in: Transposition 4 (2014), http://transposition.revues.org/494, Stand: 5. Oktober 2017, DOI: 10.4000/transposition.494.
6 Alain Corbin, Zur Geschichte und Anthropologie der Sinneswahrnehmung, in: Christoph Conrad, Martina Kessel (Hg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 129.
7 Ibid., S. 128.
8 Grundlegend zur Geschichte von weniger ver- als beschwiegenen Frauen: Tillie Olsen, Silences, New York 1978.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Karsten Lichau, Rezension von/compte rendu de: Alain Corbin, Histoire du silence. De la Renaissance à nos jours, Paris (Albin Michel) 2016, 207 p., ISBN 978-2-226-32378-1, EUR 16,50., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60010