Der hier zu besprechende Sammelband geht auf eine Tagung mit demselben Titel zurück, die im Oktober 2014 am Deutschen Historischen Institut Paris stattfand. Die zwölf Beiträge sind ca. hälftig in deutscher und französischer Sprache gehalten. Die Autorinnen und Autoren – ein kurzer biografischer Abriss am Ende des Bandes wäre wünschenswert gewesen – arbeiten auf den Gebieten der Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie der Philosophie. Der Sammelband ist somit ein weiterer Beitrag zum Brückenschlag insbesondere zwischen der Historiografie- und Literaturgeschichte, der hilft, eine institutionell verengte Sichtweise zu überwinden und umfassendere Fragestellungen in den Blick zu nehmen.

Die Anführung des Untersuchungszeitraums beim französischen Titel »Poétique et politique du discours historique en Allemagne et en France (1789–1914)« weist darauf hin, dass es für das in der deutschen Geschichtswissenschaft inzwischen weit verbreitete lange 19. Jahrhundert in Frankreich keine Entsprechung gibt. Die weite Spanne der Beiträge von Winckelmann (Mitte des 18. Jahrhunderts) bis Meinecke (frühes 20. Jahrhundert) erweist sich angesichts des leitenden Untersuchungsgegenstandes einer Poetik der Nation als produktiv und schlüssig. Überzeugend erscheint auch, dass der Beitrag von Bertrand Binoche zu Nietzsches Konzept einer Genealogie der Moral entgegen der sonst leitenden chronologischen Anordnung an die letzte Stelle platziert wurde, da bei Nietzsche die Selbstvergewisserung der Nation über den Geschichtsdiskurs zum ersten Mal radikal in Frage gestellt wird.

Ausgehend von dem hinlänglich bekannten Befund der Bedeutung des Geschichtsdiskurses für die nationale Selbstvergewisserung im 19. Jahrhundert fragen die Herausgeber nach den Poetiken und Politiken nationaler Geschichtsschreibung. An Hayden Whites Arbeiten zur Geschichtserzählung anschließend soll das Verhältnis von Poetik und Politik, von Geschichtsbild und Darstellungsform beispielhaft untersucht werden. Leitfragen sind: Gibt es eine bestimmte Poetik der nationalen Geschichtsschreibung? Wie wird die Sinnhaftigkeit bzw. Zielgerichtetheit der Geschichte poetologisch hergestellt? Und: Gibt es spezifische Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen einem deutschen und französischen Geschichtsdiskurs?

Es überrascht nicht, dass angesichts des begrenzten Raumes eines solchen Sammelbandes kein umfassendes Bild gezeichnet werden kann. So werden in den Beiträgen politisch und konfessionell abweichende sowie regional spezifische Sichtweisen allenfalls erwähnt. Zudem bleiben einige Beiträge bei der Untersuchung nationaler Geschichtsbilder stehen und stellen das Verhältnis von Poetik und Nation nicht wie von den Herausgebern angekündigt in den Mittelpunkt. Dennoch werden wertvolle Antworten auf grundlegende Fragen gegeben. So führt der Band ausgehend von zeitlich und räumlich weit gestreuten Beispielen eine zentrale Gemeinsamkeit nationalgeschichtlichen Erzählens vor Augen: Die Zielstrebigkeit bei gleichzeitiger Langsamkeit des nationalen Werdens in Inhalt und Form. Chaos und Zufall werden in den Erzählweisen ausgeblendet, das Erzählen erfolgt auf ein Ziel hin, die Entwicklung wird über das langsame, selbst in trivialen Formen häufig weitläufige Erzählen mit Sinn aufgeladen. Einen Bruch erhält diese Teleologie erst ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert wie etwa bei Nietzsche.

Im Folgenden werden einzelne Aspekte der Beiträge kurz vorgestellt: Michael Werner weist auf die unterschiedliche Rezeption Hayden Whites in Deutschland und Frankreich hin. Die deutsche Literatur- und Geschichtswissenschaft zeige sich aufgrund ihrer hermeneutischen Tradition offener. Sprachlichkeit und Wissenschaftlichkeit bildeten in Deutschland bereits seit dem 18. Jahrhundert keinen Gegensatz. In Frankreich hätten aufgrund der positivistischen Tradition in den Sozialwissenschaften eher Fachfremde wie Paul Ricœur White entdeckt und dies vor dem paradoxen Hintergrund einer starken Traditionslinie der Verbindung von Wissenschaft und Kunst in Frankreich, etwa bei Thierry oder Thiers.

Élisabeth Décultot untersucht in ihrem Beitrag die Kategorien Volk und Nation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, insbesondere bei Winckelmann und Herder. Winckelmann spricht noch von keiner nationalen Identität, von keinem Nationalcharakter. Er entwickelt jedoch das nationale Prinzip als Untersuchungskategorie für Kunststile, interessanterweise mit einem ähnlichen Nationenschema wie Anne-Claude Philippe de Caylus in seinem bereits zwölf Jahre zuvor erschienenen Werk »Recueil d’antiquités égyptiennes, étrusques, grecques et romaines« (1752–1767).

Nationale Paradigmen lassen sich nicht nur auf die eigene Nation beziehen, sondern auch auf andere Geschichtserzählungen übertragen. So werden Fiona McIntosh-Varjabédian zufolge zentrale politische Fragen des 19. Jahrhunderts in den Werken von Michelet, Niebuhr und Mommsen zur römischen Geschichte verhandelt. Paule Petitier legt die Tradition der Poetizität und Ästhetik der Geschichtsschreibung vor allem bei Vertretern der sogenannten romantischen Generation in Frankreich dar, insbesondere bei Barante, Thierry und Michelet. So leitete Michelet, indem er das Volk als Akteur in den Mittelpunkt seiner Geschichtserzählung rückte, daraus auch seine eigene Forderung nach Volkssouveränität ab.

Gérard Laudin beschäftigt sich mit der offenen Dramenform von Victor Hugo und Georg Büchner um 1830. Dieser Antiklassizismus führte Laudin zufolge bei Hugo und Büchner zu einer fortschrittsskeptischen Sicht auf die historische Entwicklung. Jacques Le Rider setzt sich mit Adalbert Stifters Roman »Witiko« auseinander. Das vermittelte supranationale, gewaltkritische Geschichtsbild korrespondiert mit einer ausgewogenen, aus heutiger Sicht teilweise behäbigen und ausschweifenden Darstellungsform.

Fabian Lampart stellt in seinem Beitrag die Untersuchung der Raumpoetik in den Mittelpunkt. Er untersucht anhand mehrerer Beispiele – historische Romane von Balzac, Hugo, Alexis und Raabe – Funktionen und Funktionalisierungen des Raums als Mittel der Reflexion nationalgeschichtlicher Narrative. Die Nation entsteht Lampart zufolge in den untersuchten Romanen im Spannungsfeld von Nationalstaat und Region, Verfassungsentwicklung, Kriegen, Kämpfen und poetischer Auseinandersetzung.

Auch Daniel Fulda arbeitet mit zwei Untersuchungsbeispielen: Romanen von Émile Zola und Karl May über den Krieg von 1870/71. Deren Narration orientiert sich an Familien- bzw. Freundschaftsverhältnissen. Die moralische Qualifikation der Figuren steht im Mittelpunkt beider Romane. Trotz starker Unterschiede in Deutung und Darstellung führt eine ähnliche »Erzählweise der poetischen Gerechtigkeit« (S. 186) zu moralisierenden Geschichtsdeutungen, bei May allerdings im Rückblick auf den gewonnenen Krieg, bei Zola im Vorgriff auf das erhoffte Neuerstarken der französischen Nation.

Christian Helmreich untersucht Poetik und Nationsauffassung bei dem Sorbonne-Historiker Ernest Lavisse, etwa anhand des »Petit Lavisse«. Das Schulbuch erschien 1884 zum ersten Mal und blieb bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in Frankreich beliebt und einflussreich. Der »Petit Lavisse« ist damit ein Beispiel für die Sehnsucht nach dem Narrativen, die sich Helmreich zufolge in Frankreich bis heute weniger gebrochen darstellt als in Deutschland.

Der in der Chronologie letzte Beitrag von Daniel Schönpflug sieht in der Entwicklung und Reifung von Persönlichkeiten das narrative Grundmuster im Werk Friedrich Meineckes. Gegen den durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs vorherrschenden Kollektivismus seiner Zeit stellt Meinecke die Freiheit und Individualität des Einzelnen in den Mittelpunkt. In seinem ersten ideengeschichtlichen Werk »Weltbürgertum und Nationalstaat« (1908) steigert er diese Idee zu einer Persönlichkeit der Nation, die sich aus einer Vielzahl einzelner Persönlichkeiten zusammensetzt. Trotz dieses nationalen Geschichtskonzepts, mit dem Meinecke ältere Ideen Humboldts oder Schillers aufgreift, bleibt bei ihm das Verhältnis von deutscher und französischer Historiografie komplex. Seine »relationale Geschichtsdarstellung« (S. 203) vermeidet von Beginn an antithetische Darstellungsweisen. Schönpflug schließt damit an neuere Forschungen zur Historiografiegeschichte an, die ein differenzierteres Bild auf nationale Selbstzuschreibungen erlauben.

Obwohl Deutsche und Franzosen sich im Untersuchungszeitraum, dem langen 19. Jahrhundert, überwiegend als Feinde gegenüberstanden, überraschen in der Gesamtschau bei den Poetiken die großen Gemeinsamkeiten. Diese werden vor allem in den Beiträgen von Daniel Fulda, Gérard Laudin, Fabian Lampert und Fiona McIntosh-Varjabédian deutlich. Die Künstlichkeit der Untersuchungskategorie Nation, derer man sich bedient, wird von den Herausgebern selbst thematisiert (S. 12 f.). Das Postulat, aus dem Korsett auszubrechen, bleibt schwierig einzulösen. Der Sammelband zeigt jedoch, wie produktiv es sein kann, sich für neue Fragestellungen bestehender, wenn auch zu problematisierender Kategorien zu bedienen. Für die historiografiegeschichtliche Forschung ist dem Band ein breites Lesepublikum zu wünschen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Martin Nissen, Rezension von/compte rendu de: Élisabeth Décultot, Daniel Fulda, Christian Helmreich (Hg.), Poetik und Politik des Geschichtsdiskurses. Deutschland und Frankreich im langen 19. Jahrhundert/Poétique et politique du discours historique en Allemagne et en France (1789–1914), Heidelberg (Universitätsverlag Winter) 2018, VI–230 S. (Germanisch-romanische Monatsschrift. GRM-Beiheft, 78), ISBN 978-3-8253-6639-1, EUR 35,00., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60201