Basierend auf dem von Pierre Nora entwickelten Konzept der »lieux de mémoire«1 hat sich in den vergangenen etwa 20 Jahren die Forschung zu Erinnerungsorten, Erinnerungskultur, kollektivem und kulturellem Gedächtnis als nahezu eigene Forschungsrichtung in der Geschichtswissenschaft etabliert. Stand anfangs vornehmlich das identitätsstiftende Erinnern auf nationaler Ebene im Mittelpunkt der Betrachtung, findet zunehmend eine breitere Ausdifferenzierung statt, die Erinnerungsorte regionaler, lokaler, schließlich aber auch transnationaler Bedeutung in den Blick nimmt2. In diesen Kontext ist der von Corine Defrance, Bettina Greiner und Ulrich Pfeil herausgegebene Sammelband über die Berliner Luftbrücke als Erinnerungsort des Kalten Krieges einzubetten. Im Zentrum des Buches stehen nicht die bereits hinreichend erforschten Ereignisse rund um die »Berlin-Blockade« und den »Airlift« 1948/49, sondern deren Nachgeschichte. Die Beiträge konzentrieren sich auf »die damalige Perzeption der Luftbrücke, auf ihre materiellen und mentalen Spuren sowie die zeitgenössische und aktuelle Erinnerung«, wie Corine Defrance einführend verdeutlicht (S. 15).
Der insgesamt gelungene Band geht auf eine internationale Konferenz zurück, die im März 2017 im AlliertenMuseum in Berlin stattfand, und nähert sich dem Forschungsgegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven. Die 18 Beiträge werfen Schlaglichter auf die Rezeption des Geschehens und dessen propagandistische Ausnutzung in den USA, Frankreich, Polen und beiden Teilen Deutschlands. Ferner werden die Planung des Luftbrückendenkmals, die Tage der offenen Tür am Flughafen Tempelhof, der britische Flugplatz in Gatow sowie schließlich die Darstellung in Film und Wochenschau mit Blick auf die bewusste Konstruktion von kollektivem Erinnern behandelt. Strukturell hätte eine Gliederung mehrerer Aufsätze unter einige Oberthemen die Grundprämisse des Bandes unterstrichen, die die Frage nach der Erinnerungskultur eher weit fasst und Aspekte mit einbezieht, die nicht direkt – auch nicht temporär – zu einem kollektiven Erinnern beigetragen haben.
Dies verwundert umso mehr, da die Tagung selbst in die thematischen Panels »Historischer Ort«, »Zeitgenössische Blicke«, »Erinnerungsort« und »Repräsentationen der Luftbrücke« unterteilt war. Bei der Lektüre des Buches fällt auf, dass die Autoren und Autorinnen sich dem Oberthema zwar auf vielfältige Weise nähern, methodische Überlegungen zur Genese von Erinnerungsorten – egal auf welcher Ebene – aber zu selten explizit gemacht werden. Neben den einleitenden und abschließenden Überlegungen der Herausgeber verfolgen lediglich die Aufsätze von Torben Giese zur westdeutschen Rezeption der Berliner Ereignisse, Silke Betscher zu den zeitgenössischen visuellen Diskursen und der Konstruktion des Erinnerungsortes Luftbrücke sowie die Gedanken Bodo Hechelhammers zur mnemokulturellen Verbindung zwischen BND und Luftbrücke diesen Weg etwas konsequenter. Jedoch wirkt bei letztgenanntem die Frage nach einer identitätsstiftenden Funktion der Luftbrückenerinnerung innerhalb einer auf strengste Geheimhaltung bedachten Organisation etwas konstruiert.
Vor allem in Westdeutschland und den USA ist die öffentliche Wahrnehmung der Luftbrücke stark beeinflusst vom Narrativ des Beginns der deutsch-amerikanischen Freundschaft, oder plakativ: Aus Feinden wurden Partner. Das Verdienst des vorliegenden Bandes ist es, gerade dieses Narrativ zwar nicht zu widerlegen, so doch aber aufzubrechen und zu erweitern. Dass die Abriegelung der Halbstadt ab Juni 1948 keineswegs hermetisch war und durchaus Versorgungsmöglichkeiten aus der Sowjetischen Besatzungszone bestanden, ist mittlerweile Konsens in der Forschung. Von ostdeutscher und sowjetischer Seite wurde dieser Aspekt schon während der Luftbrücke betont, um den Westalliierten die Verantwortlichkeit für die »Berlin-Blockade« anzulasten.
Tatsächlich war gerade die Vorstellung der von einer Blockade hermetisch abgeriegelten Halbstadt inmitten des kommunistischen Machtbereiches konstitutiv für den Mythos der Luftbrücke und damit die Zeichnung eines »westlichen« Erinnerungsortes (S. 42). Nur vor diesem Hintergrund funktionierte die schon von den Zeitgenossen initiierte Aufladung der Luftbrücke zu einem heroischen Akt westlicher Solidarität gegen den Vormarsch des Kommunismus einhergehend mit einer Viktimisierung der Westberliner Bevölkerung. Im Rahmen der Propaganda des aufkommenden Kalten Krieges wurde die Luftbrücke instrumentalisiert, um die beginnende Versöhnung der ehemaligen Kriegspartner zu demonstrieren. Auf diese Weise wurde, so Martina Metzger in ihrem Beitrag, eine »Durchhaltegemeinschaft« zwischen Westberlinern und (West-)Alliierten kreiert, mittels derer die Deutschen ein Stück weit auch ihr Handeln in der NS-Zeit durch eine noch jüngere Vergangenheit überblenden konnten (S. 153).
Es verwundert wenig, dass die Luftbrücke in Frankreich und Großbritannien – obwohl beide Länder an der Aktion beteiligt waren – kaum Eingang in das kollektive Gedächtnis fand. Dem entgegen erstaunt jedoch das von Torben Giese aufgezeigte Ergebnis: Danach war die Berliner Luftbrücke aus Sicht der Bevölkerung zunächst nur ein regionaler Erinnerungsort im kollektiven Gedächtnis der westlichen Halbstadt. Dies zeigte sich einerseits in der westdeutschen Presseberichterstattung, andererseits aber auch an den jeweiligen Gedenktagen, bei denen die Westberliner und das US-amerikanische Militär ihre Verbundenheit hervorhoben. Erst mit dem Ende des Kalten Krieges und der endgültigen Historisierung der Luftbrücke fand diese Eingang in das kollektive Gedächtnis des wiedervereinigten Deutschland – gewissermaßen als Auftakt einer Meistererzählung, die mit dem Mauerfall 1989 endete. Nicht zuletzt half auch die Neuverfilmung des Stoffes im Rahmen eines Fernsehzweiteilers 2005 dabei, die Luftbrücke als wichtigen und vor allem positiven Part der deutschen Teilung in den 1940er-Jahren festzuschreiben (S. 277).
Welche Bedeutung einer gezielten Steuerung des Erinnerns zukommt, lässt sich aus den Beiträgen von Matthias Heisig sowie Jan Behrendt und Doris Müller-Toovey ablesen. Der Flughafen Berlin-Tempelhof wurde, aufgewertet um das Luftbrückendenkmal und den davor liegenden »Platz der Luftbrücke«, zu dem Erinnerungsort im physikalischen Sinne deklariert – was durch den Umzug des AlliiertenMuseums in die Räumlichkeiten am Tempelhofer Rollfeld zukünftig noch verstärkt werden dürfte. Dementgegen geriet der Flugplatz Gatow und damit auch der beträchtliche Beitrag der Briten zum Gelingen des Airlift trotz des dortigen Standortes des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr weitgehend in Vergessenheit. Dass der Flugplatz Tegel wiederum seine Existenz nur dem französischen Mitwirken an der Luftbrücke verdankt, ist ebenfalls kaum in das kollektive Gedächtnis Berlins eingegangen (S. 102).
In dem vorliegenden Buch wird exemplarisch verdeutlicht, dass die Blockade und die darauffolgende Versorgung einer Millionenstadt durch die Luft einen Kristallisationspunkt kollektiven Erinnerns im historischen Kontext des Kalten Krieges bildeten, sich aber trotzdem Aspekte finden, die noch einer genaueren Betrachtung unterzogen werden müssen. Der Ansatz des gesamten Bandes ist mithin gleichzeitig der wichtigste Befund und damit ebenso Anknüpfungspunkt für die weitere Forschung: Es gilt sich von der Retrospektive auf den Beginn der deutsch-amerikanischen Freundschaft zu lösen und das Spektrum zu erweitern auf eine Multiperspektivität, in der auch bisher überblendete Thematiken Beachtung finden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Arne Hoffrichter, Rezension von/compte rendu de: Corine Defrance, Bettina Greiner, Ulrich Pfeil (Hg.), Die Berliner Luftbrücke. Erinnerungsort des Kalten Krieges, Berlin (Ch. Links) 2018, 360 S., ISBN 978-3-86153-991-9, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60202