Das Jubiläum der nun schon fünf Dekaden zurückliegenden »68er«-Bewerung brachte eine Flut neuer Publikationen, Ausstellungen und anderer Veranstaltungen zu diesem mystifizierten Jahr der Zeitgeschichte mit sich. Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg reihte sich ein in diesen Reigen mit der Ausstellung »… denn die Zeiten ändern sich. Die 60er Jahre in Baden-Württemberg«. Der dazugehörige Katalog wurde von Sebastian Dörfler herausgegeben, der zusammen mit Katja Nagel die Ausstellung kuratierte. Schon der Titel verrät, dass nicht nur das »Wendejahr« 1968 im Mittelpunkt der Ausstellung steht, sondern betont entsprechend der aktuellen Forschung die längeren Prozesse soziokultureller Veränderung im Zeitraum von 1958 bis 1973 (S. 12).

Nicht nur Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, sondern auch ein jüngeres Publikum sollten angesprochen werden, um die Bedeutung und weitreichenden Auswirkungen kontroverser Debatten auf Gesellschaft und Kultur erfahrbar zu machen (S. 7). Der Fokus liegt auf der Jugend als treibender Kraft der Entwicklung (S. 8). Den Gewinn einer landesspezifischen Betrachtung sieht die stellvertretende Leiterin des Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Paula Lutum-Lenger, darin, dass im »Spiegel der Regionalgeschichte […] globale Trends besonders lebendig nachvollzogen werden« (S. 12) könnten.

Ein Eintauchen ins Lebensgefühl der »jungen Wilden« gelingt bereits im ersten Kapitel »Klang der Revolte« überraschend gut, und das obwohl den Leserinnen und Lesern – anders als den Besuchern und Besucherinnen der Ausstellung – das »Hineinhören« versagt bleibt. Dieses Manko wird durch das Einflechten von Objektgeschichten und privaten Erinnerungen geschickt ausgeglichen: Was bedeutete in einer Zeit vor mp3 und Musikstreaming der Besitz einer eigenen Gitarre (S. 19)? Was für ein Gefühl der Rebellion erfüllte einen Jugendlichen, der sich unter dem Deckmantel braver Tanzstunden heimlich zur Bandprobe schlich (S. 20)? Selbst eine sorgsam auf Schreibmaschine getippte Jahresbilanz einer Stuttgarter Amateurband mit einem verfügbaren »Eigenkapital« von 1,86 DM vermittelt die Leidenschaft, mit der junge Leute moderne Musik in den Südwesten holten (S. 30). Diverse Genres, Aufsehen erregende Konzerte und die Amateurbands der Region zeigen einen klaren Bruch mit der Elterngeneration auf. In ihrer Musik überdauert ein Stück des Zeitgeistes.

Auch sich verändernde Modetrends im Laufe der 1960er Jahre kommen zur Geltung. Das zeigt etwa der Imagewandel einer Gruppe um die Mannheimer Sängerin Joy Fleming, die innerhalb dreier Jahre von Anzug tragenden »Saubermännern« zu »langhaarige[n] Hippies« in Schlaghosen mutierten und so Veränderungen ähnlich markant zur Schau stellten, wie etwa ein Jahrzehnt später Freddie Mercurys Verwandlung mit ikonischem Schnurrbart der Dekade der 1980er Jahre retrospektiv ein neues Gesicht verlieh (S. 34f.).

Das Kapitel zur Mode widmet sich diesem sehr einprägsamen Bild der 1960er, das durch popkulturelles Überdauern und »Retroschick« bis heute lebendig blieb. Trends wie Batik, bodenlange Kleider, Schlag- und Jeanshosen werden auf die ihnen zugrundeliegenden Einflüsse und Botschaften hin untersucht. Natürlich handelte es sich hierbei um transnationale Trends, Landesspezifika sind hier kaum auszumachen. Die schillerndsten Facetten werden ohnehin eher durch die ehemaligen Besitzer und Besitzerinnen der Exponate zum Vorschein gebracht, deren Erinnerungen von der Ausstellungsorganisation kontextualisiert und so mit historischer Bedeutung versehen werden. So war ein rotes Minikleid nicht nur eine kostspielige und schicke Aufmachung für die Abiturfeier, sondern zugleich ein Wagnis, ein Marker für beginnende Emanzipation, ein Aufbruch in das selbstbestimmte Erwachsenenleben (S. 66ff.). Erst durch die kreisrunde Brille mancher Zeitgenossen und die Bewusstmachung der politischen Dimension exotischer Stileinflüsse gelingt es, auch Jüngeren zu vermitteln, dass Mode einmal sehr viel mehr als eine bloße Stilentscheidung war, nämlich ein deutliches Zeichen gewagter Emanzipation und auch ein politisches Statement.

Zwischen Musik und Mode werden Geschlechterverhältnisse unter die Lupe genommen: verschiedene Aspekte der Sexualmoral, Homosexualität sowie auch die »Rolle der Frau«. Auseinandersetzungen an einzelnen Schulen über Sexualaufklärung oder die Eröffnung von »Kinderläden« verdeutlichen die Ausprägungen deutschlandweiter Konflikte in Baden-Württemberg (S. 52, 61). Gerade die Kinderläden mit all ihren Umsetzungsschwierigkeiten bei der selbstorganisierten Kinderbetreuung verdeutlichen, dass auch im progressiven Lager die alleinige Verantwortung für familiäre Erziehungsarbeit bei der Frau lag. Der Ausstellungskatalog macht deutlich, dass auch jenseits der Abspaltung der Frauenbewegung vom männlich dominierten Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) weibliche Emanzipation nicht auf der Agenda der »68er« stand. Zugleich wird die Bedeutung des allseitigen Kulturwandels als notwendige Basis politischen Wandels herausgearbeitet (S. 58).

Politische Protestbewegungen bis hin zu gewalttätigen Eskalationen füllen die zweite Hälfte des Katalogs und werden größtenteils über Fotografien vorgestellt: zum Bersten volle Straßen, Spruchbanner oder aufwendige, satirische Kostümierungen auf Demonstrationen gegen die Springer-Presse führen durch die Höhepunkte der Politisierung der baden-württembergischen Jugend und veranschaulichen das Ausmaß der Revolte. An welchen Orten fernab der Universität linke Ideen keimen konnten und Jugendkultur ausgelebt wurde, zeigt der Abschnitt über »Freiräume«. Die lokale Club- und Diskotheken-Szene und ihr kulturelles und politisches Programm findet hier eine interessante lokalhistorische Untersuchung. Dagegen werden kritische Stimmen – vor allem gegenüber gewalttätigen Ausschreitungen – durch den Fokus auf die Jugend eher ausgeblendet oder auf ihren Antagonisten-Status beschränkt. Die Ausstellung erzählt so eher eine geradlinige Erfolgsgeschichte des Kampfs um politische und gesellschaftliche Öffnung im links-liberalen Spektrum.

Besonders im Gedächtnis bleiben auch in den letzten Sektionen des Katalogs einige außergewöhnlicheren Stücke der Ausstellung. So hätte ein überdimensionales nur noch teilweise erhaltenes Porträt Mao Tse-tungs, angefertigt für eine Anti-Springer-Demo, seinem Erschaffer beinahe die Exmatrikulation von der Stuttgarter Kunstakademie beschert, als der Prorektor bei einer Führung mit Kirchenvertretern überraschend auf das Gemälde stieß (S. 116f.). Besonders eindrucksvoll ist auch der handgeschriebene Brief einer 17-jährigen Friedrichshafenerin, in dem sie die Kommune I um die Aufnahme ihrer von Zuhause geflüchteten Schwester bittet – die Faszination für das alternative Lebensmodell der Berliner reichte offenbar bis an den Bodensee (S. 138f.).

Auch optisch versetzt der Katalog durch knallbunte Farben für die Kapiteltrenner und den Einband samt ikonischer Sonnenbrille in die wilde Zeit zurück und macht den Katalog somit nicht nur für regionalhistorisch Interessierte zu einer anregenden Lektüre. Die vielfach außergewöhnlichen Exponate werden gewinnbringend und anschaulich in eine Geschichtsnarration der 1960er Jahre auf neustem Forschungsstand eingebettet.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Alina Cohnen, Rezension von/compte rendu de: Sebastian Dörfler (Hg.), ... denn die Zeiten ändern sich. Die 60er Jahre in Baden-Württemberg, Stuttgart (Haus der Geschichte Baden Württemberg) 2017, 174 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-933726-55-1, EUR 19,90., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60203