Auch Bücher als solche sollen Schicksale haben, wie ein bis in die Antike zurückreichender Aphorismus lehrt. Auf die Monografie »Verfassung und Privatrecht im 19. Jahrhundert« trifft dies in besonderer Weise zu, denn es handelt sich hier um den raren, wenn auch insgesamt nicht völlig außergewöhnlichen Fall, dass eine nach ihrer Entstehung und akademischen Begutachtung unpubliziert gebliebene Qualifikationsschrift im Herbst der glanzvollen Karriere ihres Autors Dieter Grimm als Professor in Bielefeld und Berlin, als Richter des Bundesverfassungsgerichts und als Rektor des Wissenschaftskollegs Berlin (um nur die allerwesentlichsten Stationen zu nennen) doch noch der Fachöffentlichkeit vorgelegt wird. Schon insoweit regt die Lektüre des Bandes, der konzeptionell Torso geblieben ist – es sollte ein zweiter Band für die Jahre ab 1820 geschrieben werden – deutliches Interesse an, verheißt er doch angesichts der grundlegend gewählten Thematik die Bekanntschaft mit prägenden fachlichen Grundüberzeugungen Dieter Grimms in ihrer recht ursprünglichen Gestalt, nachdem man mit dem rechtsgelehrten Denken des Autors durch die öffentliche Wahrnehmung während der Jahre seines reifsten Wirkens nachhaltig vertraut wurde. So ist das Buch, das am örtlichen Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte entstanden ist und 1979 dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Habilitationsschrift vorgelegt wurde, von besonderem Reiz.
Zunächst zu den äußeren Bezügen der Schrift: Dass sie nach dem ursprünglichen Konzept von Dieter Grimm unvollständig blieb und wegen des unversehens sich beschleunigenden Lebenswegs des Autors in Wissenschaft und Justiz nicht in den umfangreicheren Teil des 19. Jahrhunderts hinüberreicht, dessen auf das Recht bezogene ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Ansätze das deutsche Rechtsdenken in seinen Grundlagen bis in die Jetztzeit hinein prägen, gereicht dem nun publiziert vorliegenden (Teil-)Band nicht zu Nachteil. Im Gegenteil. Grimms Werk fokussiert den im Verhältnis vermeintlich knappen Zeitraum, der zwischen der beginnenden Französischen Revolution 1789 und der an die vorgeblichen Befreiungskriege beinahe unmittelbar anschließenden mitteleuropäischen Restaurationsepoche ab den 1820er-Jahren zu liegen kommt. Dadurch rückt es eine Zeitspanne in den Mittelpunkt des Interesses, die in der rechtsgeschichtlichen Forschung sowohl zum Öffentlichen als auch zum Privatrecht zumeist durch die in mehrfacher Hinsicht überragende und damit verschattende Figur Napoleons einerseits und andererseits durch die Mitteilung rigider Maßnahmen der Restauration nach dessen zähem Sturz eher abgehandelt wird, als dass echt gelehrte Auseinandersetzung mit ihr erfolgt. Hier unterscheidet sich das vorliegende Buch Dieter Grimms von vielen anderen Beiträgen zur Epoche. Es widmet sich mit bereits bemerkenswert souverän beherrschtem gelehrten Zugriff einem rechtshistorischen Zeitalter, das häufig in einem toten Winkel rechtsgelehrter Betrachtung verbleibt.
Dieter Grimm schließt bei seinem Buch in schöner Kontinuität an das Werk der beiden seinerzeitigen Direktoren des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte an: an Michael Stolleis zunächst, der die historische Entwicklung des Öffentlichen Rechts in Deutschland und Mitteleuropa in Epochen verklammernden und übergreifenden Linien überhaupt erst ins Bewusstsein gerückt hat. Dann aber auch an den großen Privatrechtsgelehrten und Rechtshistoriker Helmut Coing, der in seiner zweibändigen Darstellung des Europäischen Privatrechts bislang schwerlich übertroffene Maßstäbe einer rechtsgeschichtlichen Darstellung in ihrem zumindest kontinentaleuropäischem Zusammenhang vorgelegt hat.
Inhaltlich nimmt Dieter Grimm nach einer avancierten Einleitung, die die wesentlichen Bezüge der Schrift offenlegt, Ausgang von einem uns Heutigen utopisch erscheinenden Konzept von Recht, das Staatsrecht und Privatrecht integriert und ohne scharfe Scheidung als Teil eines Ganzen betrachtet und das ursprüngliche Rechtsbild des Revolutionszeitalters gewesen sein soll, bis Napoleon aus spezifisch politischen Motiven heraus die Trennung der Rechtsgebiete fortschreibt. Bemerkenswert nachzuvollziehen sind die Schilderungen Dieter Grimms, warum östlich des Rheins aus gänzlich anderen Motiven heraus ein strukturell durchaus dem napoleonischen ähnliches Rechtsbild vorherrschte, das sich freilich wiederum vom imperial-französischen Modell abzusetzen suchte, obschon die fraglichen Staaten dem kaiserlichen Frankreich im Rheinbund politisch recht eng verbunden waren.
In besonderer Weise die gerade skizzierenden Zusammenhänge kontrastierend wird der Gang der Dinge in Österreich und Preußen dargelegt, den Dieter Grimm in seiner Schrift eingehend entfaltet, wobei namentlich der preußischen Reformära ein deutlicher inhaltlicher Akzent gewidmet ist, der zwischenzeitlich womöglich etwas sehr deutlich erscheint. Dass auch die Staaten des zeitgenössischen Süddeutschlands Behandlung finden, ist deutlich und besonders hervorzuheben, bleibt deren Rechtsgeschichte, sowohl deren Privatrechts- wie ihre Verfassungsgeschichte, in übergreifenden Darstellungen zur Epoche doch noch heute gerne Desiderat.
Als verbindende Klammer der Schrift über die Regionen Mittel- und Westeuropas hinweg fungiert die Verfassungsgeschichte im engeren Sinne, die für dieses Zeitalter naheliegender Weise nicht zuletzt auch eine Geschichte des sich entwickelnden Parlamentarismus ist, was den wissenschaftlichen Schwerpunkten des Autors geschuldet ist. Dass Dieter Grimm es überdies auf sich genommen hat, die in die Moderne eintretende Privatrechtsgeschichte einzuflechten, die jenes Zivilrechtsparadigma auszuprägen beginnt, das wohl bis an die Schwelle der Jetztzeit prägend war und ist, gehört zu den bleibenden Vorzügen dieses Buches. Die eng miteinander verzahnte und verbundene Darstellung von Parallelentwicklungen in beiden Bereichen modernen Rechts zeigt mehr als einmal Wechselwirkungen auf und lässt auf einzelne Entwicklungsstufen mit innovativem, geschärftem Blick sehen.
Resümierend ist festzuhalten, dass es eine treffliche Entscheidung war, die damalige Habilitationsschrift doch noch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, zeigt sie doch den bemerkenswerten Versuch, immanente Fachgrenzen durch integrierendes Denken durchlässiger zu machen. Die Zusammenschau von Verfassungs- und Parlamentsgeschichte auf der einen und Privatrechtsgeschichte auf der anderen Seite eröffnet Durchblicke in einer Deutlichkeit, die man gern und mit Genuss häufiger lesen möchte!
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Peter Kreutz, Rezension von/compte rendu de: Dieter Grimm, Verfassung und Privatrecht im 19. Jahrhundert. Die Formationsphase, Tübingen (Mohr Siebeck) 2017, X–244 S. (Jus Publicum, 269), ISBN 978-3-16-155557-2, EUR 89,00., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60206