Der britische Historiker Julian Jackson, bekannt für seine Bücher über den Zusammenbruch Frankreichs 1940 und die Jahre des Vichy-Regimes, hat für diese neue Biografie der Jahrhundertgestalt Charles de Gaulle die reichhaltige französische und englische Spezialliteratur der letzten Jahre ausgewertet (leider nicht auch die deutsche) und sowohl die nahezu erschöpfende Edition von de Gaulles Briefen und Notizen als auch die zahlreichen Zeugnisse von Begegnungen mit dem General in Tagebüchern und Memoiren intensiv genutzt. Hinzu kommen Quellenfunde in den Archives nationales und in den britischen National Archives, die aber nur punktuell über Informationen hinausgehen, die man den publizierten Quellen entnehmen kann.

Das Ergebnis ist eine Biografie, die den Führer des Freien Frankreich und ersten Präsidenten der V. Republik stärker als bisher in den Kontext seiner Mitakteure, Unterstützer und Gegner setzt und deren naturgemäß oft unterschiedliche, aber in der Regel höchst aufschlussreiche Urteile über den General (wie ihn seine Vertrauten zu nennen pflegten) wiedergibt. Der Kontext seines Handelns tritt dadurch deutlicher hervor, die Fragilität seiner Position wird plastisch vorgeführt, und es wird auch deutlich, welche Wirkungen er erzielte. Zum Schluss widmet sich ein eigenes Kapitel seinem Nachruhm, bis hin zu den wehmütigen Erinnerungen an vergangene glorreiche Zeiten, die im gegenwärtigen Frankreich Konjunktur haben.

Das Bild des Generals, das auf diese Weise hervortritt, ist oft nicht sehr schmeichelhaft. Der scheidende britische Botschafter Pierson Dixon schrieb im November 1962 an seinen Außenminister: »He possesses neither of the Christian virtues of compassion and humility. He is intolerant, unscrupulous, revengeful, ungenerous, ungrateful yet served with great loyalty by able and honest men. He exerts an extraordinary fascination and charm when he chooses. […] He is merciless in his judgements« (S. 572f.). Zahlreiche Beispiele für herrisches Auftreten, Selbstgerechtigkeit, Selbstrechtfertigung auf Kosten anderer und schneidende Kälte zeigen, dass dies keine verzerrte Wahrnehmung aus britischer Perspektive ist.

Auf der anderen Seite betont Jackson de Gaulles große Intelligenz und umfassende historische Bildung, seine rasche Auffassungsgabe, eine hoch entwickelte Technik, sich sachkundig zu machen, eine erstaunliche Merkfähigkeit und eine sich rasch entwickelnde schauspielerische und rhetorische Brillanz. Für ihn ist der »Mann des 18. Juni« ein romantischer Nationalist, der von der Überwindung der Spaltungen träumt, die die Französische Revolution unter den Franzosen hervorgerufen hat, und sich seit dem Applaus, mit dem er im Oktober 1940 in Kamerun empfangen wurde, als Verkörperung oder Medium des »ewigen Frankreich« empfand. Er lebte folglich in ständiger Spannung zwischen Traum und Realität, Mystik und Politik, Gefühl und Vernunft, Romantik und Klassik (S. 773).

Das ist gut beobachtet, und in vielen Passagen der umfangreichen Biografie wird diese Spannung auch anschaulich geschildert. Was Jackson aber weniger gelingt, ist die Analyse der Operationen, die de Gaulle bei seiner Gratwanderung zwischen Traum und Realität unternahm. Hier, bei der Erfassung der konkreten Situationen, in denen de Gaulle agierte, seiner strategischen Ziele und der Ergebnisse seines Handelns, bleibt er oft oberflächlich. So wird, um nur wenige Beispiele aufzuführen, nicht deutlich, dass der Offizier de Gaulle Marshall Pétain im Hinblick auf die Veröffentlichung seines Manuskripts zur Geschichte der französischen Armee gleich zweimal regelrecht erpresst hat.

Bei der Entscheidung gegen eine amerikanische Militärverwaltung im befreiten Frankreich wird die Mobilisierung der öffentlichen Meinung in den USA durch de Gaulle als vielleicht entscheidender Faktor nicht erwähnt. Im Hinblick auf die Parlamentswahlen vom Juni 1951 wird nicht herausgearbeitet, dass es de Gaulle einzig und allein um eine verfassungsändernde Mehrheit ging; folglich bleibt auch die höchst ungnädige Behandlung, die er den gewählten RPF-Abgeordneten angedeihen ließ, letztlich unverständlich. Bei der Rückkehr des Generals an die Macht im Frühsommer 1958 spricht Jackson von einem »Staatsstreich« (S. 472), ohne dass dies inhaltlich begründet würde. Das Gleiche gilt für die Charakterisierung der Ereignisse des Mai 1968 als »Revolution« (S. 709). Für de Gaulles radikalen Stimmungsumschwung bei seinem kurzen Aufenthalt in Baden-Baden am 29. Mai gibt es keine Erklärung.

Im Hinblick auf die Europapolitik vergisst Jackson seine sehr berechtigte Maxime, nicht alle vertraulichen Äußerungen des Generals für bare Münze zu nehmen. Gelegentliche Attacken auf »Integration« und »Supranationalität« verleiten ihn dazu, die europäische Dimension seiner atomaren Strategie und seines weltpolitischen Konzepts überhaupt nicht zu sehen. Die Auseinandersetzungen um den britischen Vorschlag einer Freihandelszone im Herbst 1958 und um den britischen Beitrittsantrag zur EWG vom Juni 1961 schildert er ganz aus der Perspektive des britischen Premiers Harold Macmillan. Dass die Briten sehr eigene Vorstellungen von den Bedingungen einer Mitgliedschaft hegten, wird nicht weiter erwähnt. De Gaulle erscheint damit als der unverrückbar engstirnige Vertreter eines nationalen Egoismus, als den ihn seine europapolitischen Gegner immer schon wahrgenommen haben.

Freilich: Das reichhaltige Quellenmaterial lässt in gewissen Grenzen unterschiedliche Interpretationen zu. Man mag daher Jacksons Deutungen als einen Beitrag zu einer fortdauernden Diskussion begrüßen. Darüber hinaus bietet seine Biografie einem englischsprachigen Publikum eine aktuelle und vielseitige Einführung in de Gaulles Welt und in die Besonderheiten der Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert. Karten, eine sehr sorgfältige Bebilderung, eine kommentierte Einführung in Quellen und Literatur und eine Sammlung von Kurzbiografien vieler Akteure machen das Buch auch zu einem vorzüglichen Arbeitsinstrument. Für das Jubiläumsjahr 2020 (50 Jahre nach de Gaulles Tod) wird eine französische Ausgabe vorbereitet. Man darf gespannt sein, wie das Publikum in Frankreich darauf reagieren wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Wilfried Loth, Rezension von/compte rendu de: Julian Jackson, A Certain Idea of France. The Life of Charles de Gaulle, London (Allen Lane) 2018, XII–887 p., 69 b/w ill., ISBN 978-1-846-14351-9, GBP 35,00. , in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60208