Jörg Echternkamp betont in seinem Beitrag die Relevanz des 8. Mai 1945 für das deutsche Gedächtnis. Das mag im Kontext eines Bandes über die Invasion in der Normandie abwegig erscheinen, ist es aber nur auf den ersten Blick. Den meisten Deutschen sagt das Datum des 6. Juni 1944 nichts; der Blick der Öffentlichkeit rechts des Rheins auf den Zweiten Weltkrieg ist seit Jahrzehnten auf den Tag der Niederlage, zugleich den Tag der Befreiung, fixiert. Für Briten, Amerikaner, auch für Kanadier und natürlich vor allem für Franzosen ist das anders. Für sie ist »D-Day«, »jour J«, ein Kernbestand ihrer Erinnerungskultur, wie der hier vorzustellende Sammelband belegt.

Der Band gliedert sich in fünf große Teile. Im ersten Teil diskutieren David Welch, Christian Delporte und Arélie Luneau die Rolle der bevorstehenden Invasion in der alliierten Propaganda. Welche Erwartungen wurden daran geknüpft? Goebbels schürte die Erwartung, die Invasion werde scheitern und dann im Westen Kräfte für den Kampf an der Ostfront freisetzen, wie Jean-Luc Leleu kenntnisreich darlegt.

Der zweite Teil geht auf das eigentliche Kampfgeschehen ein, aber weniger als Operationsgeschichte denn als Einordnung in das Gesamtgeschehen des Krieges. Der Wirtschaftshistoriker Alan Tooze etwa zeigt auf, dass letztlich die materielle und zahlenmäßige Überlegenheit der Alliierten den Ausschlag für den Schlachterfolg gab, weil nur sie jene auf Kräfteschonung ausgelegte Kampfführung ermöglichte, die in demokratisch verfassten Staaten eine langfristige Kriegsbereitschaft ermöglichte. Peter Lieb untersucht die Neigung der beteiligten Truppenteile zu Kriegsverbrechen, die vor allem bei den Verbänden der Waffen-SS deutlich größer ist als bei allen anderen deutschen oder alliierten Truppen. Beiträge von Bernd Wegner, Stephen A. Hart und Olivier Wieviorka vor allem zu Kampfmoral und psychologisch bedingten Ausfällen komplettieren diesen Teil.

Der dritte Teil befasst sich mit der Darstellung des Geschehens in den Medien, und auch wenn nur einer der drei Beiträge (Frédérique Ballion) sich explizit mit dem Film von 1962 (»The Longest Day«) befasst, so überschattet dieses Epos doch auch alle anderen Untersuchungen. Die Arbeiten von Dominique Briand und Muriel de la Souchère kommen ebenfalls nicht umhin, die Wirkung anderer medialer Darstellungen der Invasion an der filmischen Umsetzung durch Darryl F. Zanuck zu messen.

Der vierte Teil ist der Nutzung der Erinnerung für Zwecke der Gegenwart gewidmet – hier findet auch der eingangs erwähnte Beitrag von Jörg Echternkamp seinen Ort. Spannend ist aber auch der Beitrag von Hélène Harter über die Rede Präsident Ronald Reagans an der Pointe du Hoc 1984. Damit soll der Aufsatz von François Cochet über die Invasion als Vorläufer der Konsumgesellschaft nicht abgewertet werden.

Der letzte Teil (Jean Quellien, Bertrand Lécureur, Françoise Passera) widmet sich einem Themenbereich, der in der Forschung in den letzten Jahren überall an Gewicht gewonnen hat: Wie werden historische geprägte Orte wie etwa die Strände der Normandie heute touristisch genutzt? Wer begibt sich auf eine Reise dorthin, ist es »dark tourism«, und welche Angebote machen die betroffenen Regionen den interessierten Reisenden? Nach dem vorher Gesagten kann es nicht überraschen, dass auch die angloamerikanischen Touristen mehr die Orte des Films von 1962 als jene des realen Geschehens von 1944 suchen.

In seiner Einführung zu diesem Band hat Olivier Wieviorka darauf hingewiesen, dass sowohl die deutschen Truppen als auch die Zivilbevölkerung der Normandie in den angloamerikanisch dominierten Darstellungen kaum vorkommen. Die Haltung dieser Zivilbevölkerung zu den Westalliierten, die zunächst aus der Luft und dann im Erdkampf ihre Dörfer und Städte verwüsteten, wird kaum untersucht.

In seiner Zusammenfassung greift Jean-Luc Leleu einige dieser Fragen noch einmal auf. Ihm zufolge erlaubt die Selbstwahrnehmung Frankreichs als geknechtetes Land 1944 eine leichtfertige Verdrängung der Frage nach den Ursachen der Katastrophe von 1940. Er greift den in verschiedenen Beiträgen geäußerten Gedanken einer »Amerikanisierung« des Gedenkens auf – schon im Film reduzierte sich der britische Beitrag im wesentlichen auf die Einnahme der Pegasus Bridge, und die Kanadier kamen noch weniger vor. Reagans Rede hat das Ihre dazu getan, die US-Armee als den wesentlichen Protagonisten des 6. Juni 1944 erscheinen zu lassen, obwohl schon rein zahlenmäßig die Briten der wichtigste Truppensteller waren. Rüstungswirtschaftlich hingegen stammte ein Großteil des eingesetzten Großgeräts aus den USA.

Dieser Band vereint methodisch höchst unterschiedliche Beiträge zu einem zentralen militärgeschichtlichen Thema. Er belegt, wie integriert in die anderen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft die Militärgeschichte inzwischen auch international ist. Die Herausgeber haben bedeutende Autoren für Beiträge zu einer klaren Fragestellung gewinnen können, die am Ende ein ansprechendes Gesamtbild ergeben. Ein ausgezeichnetes Werk.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Winfried Heinemann, Rezension von/compte rendu de: Jean-Luc Leleu (dir.), Le Débarquement. De l’événement à l’épopée. Actes du colloque organisé par le Centre de recherche d’histoire quantitative au Mémorial de Caen du 21 au 23 mai 2014, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2018, 309 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-7324-6, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60212