Von 1870 bis 1940 war Frankreich zum dritten Mal eine Republik, die vor der Herausforderung stand, sich ihren Bürgern als Regierungsform zu vermitteln. Ein privilegiertes Medium der staatlichen Selbstdarstellung, so die Kernthese von Kory Olsons Buch »The Cartographic Capital«, war die Kartografie. Anhand einer Auswahl offizieller Karten, die das französische Territorium, vor allem aber die Hauptstadt Paris anschaulich machten, untersucht Olson die Art und Weise, wie sich die Republik visuell darstellte und wie Regierungsprogramme sowie urbanistische Maßnahmen legitimiert und dokumentiert wurden.
In seiner Einleitung referiert der Autor einschlägige sozial- und kartografiehistorische Arbeiten von Autorinnen wie Catherine Dunlop, J. B. Harley, Dennis Wood, Henri Lefebvre und David Harvey, an die sein Projekt anschießen soll (S. 5f.). Olson möchte seine Untersuchung insbesondere als Fortschreibung von Harveys Analysen des 19. Jahrhunderts in »Paris. Capital of Modernity« (2003) mit Blick auf die Dritte Republik verstanden wissen. Die wichtigere Verschiebung gegenüber Harveys Buch besteht allerdings im Fokus auf die kartografischen Visualisierungen zwischen 1889 und 1934.
Diese Zusammenführung von Kartografiegeschichte, Stadtentwicklung und Stadtverwaltung, so Olson, sei bis dato noch nicht unternommen worden. Womit er nicht ganz richtig liegt: Enrico Chapel hat mit »L’Œil raisonné. L’invention de l’urbanisme par la carte« bereits 2010 eine materialreiche und präzise Untersuchung der kartografischen Bedingungen des Urbanismus als neuer Wissenschaft der Stadt vorgelegt. Mit Publikationen jüngeren Datums aus dem Feld der Visual Studies und der medienwissenschaftlichen Kartenforschung scheint Olson ebenfalls nicht vertraut zu sein. Seine sehr gut lesbare Studie bietet dennoch einen informativen Überblick über die zentralen Herausforderungen der Stadtverwaltung und -planung und über die Bedeutung kartografischer Visualisierung um 1900.
Das Buch besteht aus sechs Kapiteln, die sowohl thematisch als auch chronologisch geordnet sind. Interessant sind die Erläuterungen im ersten Kapitel über die Entwicklung der Druck- und Farbtechniken der Kartenproduktion im späten 19. Jahrhundert.
Vor allem aber mit den Ausführungen im Mittelteil über neue Programme der Ausbildung der Bürger und Schüler zum Kartenlesen kann Olson überzeugend den Zusammenhang von kartografischer Kompetenz und der Wahrnehmung der Nation aufzeigen.
Nach der Niederlage gegen Preußen 1871 suchten Politiker und militärische Führung eine Begründung in der Tatsache, dass französische Soldaten nicht in der Lage waren, Karten zu lesen. Um das verletzte Ansehen der Nation wiederherzustellen und künftig besser gewappnet zu sein, sollte der wehrhafte Republikaner folglich an der Karte ausgebildet werden. Insbesondere Vidal de la Blache setzte sich für den kartografisch informierten Geografieunterricht ein und trug auf diese Weise dazu bei, dass unter anderen diejenigen Karten, die Olson in seinem Buch vorstellt, in der französischen Bevölkerung bekannt und auch verstanden wurden. Am Beispiel des Schulbuchs »Le tour de la France par deux enfants«, dessen zweiter Auflage von 1884 die Autorin Augustine Fouillé Kartenmaterial beifügte, vermag Olson die Demokratisierung kartografischen Sehens und seine Rolle für die Identifizierung mit der französischen Nation zu beschreiben.
In den letzten beiden Kapiteln geht es Olson um die Etablierung des Urbanismus in Frankreich und um die Erweiterung des Stadtterritoriums, die eine Folge des enormen Zuzugs von Arbeitern in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war. In Verbindung mit der gesteigerten Mobilität der Bevölkerung durch Eisenbahn und Automobilverkehr drängten sich die Notwendigkeit von Planung und Ausbau der städtischen Infrastrukturen sowie eine neue Einbeziehung der bis dahin wenig beachteten Pariser Vororte auf. Karten fungierten dabei als zentrale Planungsinstrumente. Hier bespricht Olson mit Léon Jausselys »Plan d’extension« von 1919 und Henri Prosts »Carte générale de l’aménagement de la région parisienne« von 1934 zwei wichtige Dokumente des frühen Urbanismus, anhand derer er die neue Aufmerksamkeit für die ausfransenden Ränder der Stadt und ihre sozialen Bedingungen aufzeigt.
Olson betrachtet Karten als Machtinstrumente (S. 4). Dabei bleiben jedoch sowohl sein Machtbegriff als auch sein Verständnis kartografischer Funktionsweisen und ihrer Effizienz unterbestimmt. Wie genau brachten die Karten das dynamische, vielfältige Urbane in eine Übersicht? Wie produzierten sie Evidenz? Was bedeutet es, vom Schreibtisch aus zu planen und zu verwalten? Olson versteht Karten im Wesentlichen illustrativ und hat ein etwas zu simples Konzept von kartografischer Repräsentation. Dabei berücksichtig er zu wenig, dass Kartieren ein epistemisches Verfahren ist. Denn es wird nicht nur dokumentiert und abgebildet, sondern im Akt der Aufzeichnung werden Gegenstände des Wissens erst hervorgebracht und entfaltet. Sie gewinnen eine Wirklichkeit auf dem Papier, das zum Operations- und Interventionsraum der Verwaltung wird. So machen Karten Handlungsbedarf evident und legen selbst bereits Lösungen nahe.
Bei Olson sind die Karten eindeutige und stabile Repräsentationen. Diese beruhen jedoch auf einer spezifischen Abstraktions- und Reduktionsleistung. Zugleich machen sie immer mehr und noch anderes sichtbar als beabsichtigt, und die Fülle und Komplexität der darzustellenden Dinge sorgen für stets neue oder sich ändernde Datenmengen. Tatsächlich konnte die administrative Kartenproduktion mit den dynamischen Verhältnissen, den Verdichtungen und Ausweitungen des Stadtraums und der Vielfältigkeit der urbanen Milieus kaum mithalten. Der totale, panoptische Überblick über Paris ist ein Phantasma. Dass es die Komplexität der kartografischen Visualisierung unterschätzt und auf eindeutige Abbildungsverhältnisse reduziert, ist eine erhebliche Schwäche des Buchs. Präzisere Analysen des ausgewählten Materials wären sicherlich hilfreich gewesen.
Olsons Geschichte endet mit der deutschen Besetzung von Paris im Jahr 1940 und einem sehr kurzen Ausblick auf die urbanen Entwicklungen in den 1950er-Jahren. Leider gelingt es dem Autor an dieser Stelle nicht, die Relevanz und auch Aktualität seiner Studie deutlicher zu machen. Dabei wäre es nicht nur sehr aufschlussreich, sondern auch wichtig, die Entwicklung der thematischen Stadtkarten als elementare Regierungstechnologien im Rahmen einer kritischen Genealogie derjenigen Verfahren der Datenerhebung und Visualisierung zu betrachten, die heute unter dem Schlagwort der »Smart City« verhandelt werden. Im letzten Satz konstatiert Olson stattdessen uninspiriert, dass das anhaltende Wachstum der Stadt Paris weitere Untersuchungen erfordern wird (S. 280) – eine eher lapidare Bilanz.
So bleibt das Buch eine sehr gute Beschreibung der urbanistischen Herausforderungen, vor denen das Paris der Dritten Republik stand, und bietet eine sorgfältige Materialzusammenstellung, jedoch wenig originelle Thesen oder neue Perspektiven auf den Gegenstand oder die Gegenwart.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Antonia von Schöning, Rezension von/compte rendu de: Kory Olson, The Cartographic Capital. Mapping Third Republic Paris, 1889–1934, Liverpool (Liverpool University Press) 2018, X–310 p., 9 fig. (Studies in Modern and Contemporary France, 1), ISBN 978-1-78694-096-4, GBP 85,00., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60215