Höhen und Tiefen der europäischen Integration wurden im Verlauf der Jahrzehnte, die diese nun schon währt, intensiv durch wissenschaftliche Forschung (insbesondere Geschichte, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie) begleitet. Tiefgreifende Ereignisse wie der Umbruch 1989 haben ganz besonders anregend auf die Forschung gewirkt – die Beforschung der Europäischen Gemeinschaft (EG) beziehungsweise Europäischen Union (EU) schwoll quantitativ an. Verständlicherweise haben auch die als Krisen wahrgenommenen Großprobleme seit 2007/08 wie Bankenzusammenbrüche, Staatsschulden, Flüchtlinge, antidemokratische Tendenzen in Ungarn, Polen und Rumänien sowie allerlei Exit-Fantasien, die sich im Falle des Vereinigten Königreichs konkretisiert haben, Forschung angeschoben.

Eine Funktion von Wissenschaft ist es, auch turbulente Zeitphänomene zu untersuchen, ohne sich zur Partei zu machen. Dies versucht Kiran Klaus Patel mit »Projekt Europa. Eine kritische Geschichte«. Sein Sprungbrett ist die aktuelle Situation der EU, aber diese stellt nicht das Kernthema des Buches dar. Patel geht mit verrutschten, wenn nicht gar falschen, Ansichten über die Entwicklung der europäischen Integration ins Gericht. Er tut dies für die Anfänge über verschiedene Entwicklungsstufen bis zum Vertrag von Maastricht 1992. Im Zentrum stehen die Vorgängerinnen der mit Maastricht vertragsmäßig gegründeten EU, also die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit Euratom, sowie die Europäische Gemeinschaft (EG).

Patel nimmt acht Problemkomplexe in den Blick: »Europa und europäische Integration«; »Frieden und Sicherheit«; »Wirtschaftswachstum und Wohlstand«; »Partizipation und Technokratie«; »Werte und Normen«; »Bürokratisches Monster oder nationales Instrument«; »Desintegration und Dysfunktionalität«; »Die Gemeinschaft und ihre Welt«.

Sein kritischer Blick richtet sich darauf, dass vieles, wovon heute angenommen wird, dass es genuin und von Anfang an zum Prozess der europäischen Integration gehört habe, eben nicht dazu gehört hat, jedenfalls in Bezug auf jenen Teil der Integration, der auf die EGKS, die EWG/Euratom sowie die EG entfiel. Dies kritisch zu untersuchen, ist natürlich deshalb wichtig, weil die Meistererzählung zur EU Themen wie Frieden schaffen, Wohlstand schaffen, Werte verteidigen und so fort als Kernelemente verwendet und zu einem komplexen Gründungsmythos verwebt.

Die EGKS und die nachfolgenden Schöpfungen bis zur EG machten nicht die europäische Integration aus, sondern waren ein Teil davon, und nicht zwingend der wichtigste. Erst ab den 1970er Jahren änderte sich dies sozusagen zugunsten der EG. Vereinfachend sei nun von EG die Rede, mitgemeint sind die vorherigen Gebilde EGKS und EWG/Euratom.

Die EG schuf nicht primär Frieden, das taten eher andere, aber sie trug dazu bei. So trug sie zweifellos zu Wirtschaftswachstum und Wohlstand bei, aber dass beides im Nachkriegseuropa nennenswerte Ausmaße erreichte, war sehr vielen Faktoren zu verdanken, unter denen die EG wiederum einer, aber auch nicht mehr als einer, war.

Die Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern war anfangs geradezu ausgeschlossen, institutionell fand diese eigentlich erst ab der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 statt. Im Gegenzug war die EG aber nicht das Bürokratiemonster, als das sie und auch heute die EU gerne charakterisiert werden. Werte wie Menschenrechte und Demokratie standen ebenso wenig im Interessensmittelpunkt der EG, dies kam später, insbesondere mit dem Maastricht-Vertrag 1992.

Angeregt durch Alan S. Milwards Forschungen zum Verhältnis von europäischer Integration und Nationalstaat, die er anschaulich unter den Buchtitel »The European Rescue of the Nation-State« stellte (1992), hat sich nicht zuletzt die Geschichtsforschung damit intensiv befasst. Heute dürfte unstrittig sein, dass europäische Integration kein Ergebnis von reinem Idealismus war. Das Nachkriegseuropa wurde als ein Europa der Nationalstaaten entwickelt, dem diente auch der Integrationsprozess, aber dieser entfaltete auch transnationale Eigendynamiken. Jedenfalls ist das rechtspopulistische Gerede von der den Nationalstaaten entwendeten nationalen Souveränität historischer Unsinn.

Unter dem Stichwort der Desintegration verweist Patel auf inzwischen wieder vergessene Ereignisse, die sich vielleicht nicht direkt mit dem Brexit vergleichen lassen, die aber als Austritte gewertet werden können. Dies betraf Grönland, das als Teil Dänemarks Teil der EG war, das aber die Aufwertung seines Autonomiestatuts in den 1980er-Jahren nutzte, um ausdrücklich aus der EG auszutreten. Davor schon gab es den Fall Algeriens: Bis zum Algerienkrieg gehörte es zu Frankreich, es war juristisch keine Kolonie, sondern Teil des Staates. Nach der Trennung von Frankreich wurde allerdings das nun souveräne Algerien nicht sofort wie jeder andere »Drittstaat« behandelt, vielmehr brachte die Praxis ein allmähliches Entgleiten aus der EG. Warum das so war, zeigt Patel sehr detailgenau.

Patel erläutert anschaulich, wie die EG zu einem handelspolitischen Akteur wurde; dabei legt er Wert auf die Asymmetrien, die gegenüber den ehemaligen Kolonien entwickelt wurden. Nichtkoloniales und nichtrassistisches Denken war der EG keinesfalls in die Wiege gelegt gewesen.

Einige kritische Anmerkungen zu diesem kenntnis- und faktenreichen Buch sind vonnöten: Die geschichtswissenschaftliche Integrationsforschung bedarf keiner Aufforderung zur kritischen Betrachtung von EG/EU – sie leistet das schon lange. Wenn Fragen wie der Beitrag der EG zum Frieden in Europa behandelt werden, braucht es eine Klärung der Maßstäbe, an denen der Beitrag gemessen wird. »Frieden« ist eine komplexe Angelegenheit und ist daher zunächst einmal komplex zu definieren, bevor gemessen wird. Insgesamt bleibt die Klärung der Schlüsselbegriffe, die alle Konzept- und Theoriebegriffe sind, hinter dem, was man erwarten kann und muss, zurück.

Ursprungserzählungen, Erzählungen von einem bedeutenden Anfang, bilden den typischen Inhalt von Mythen. Sie erzählen keine »wahren Geschichten«, aber sie sind nicht unwahr – weil sie in der Regel längere Transformationsprozesse zu einer scheinbar glatten Geschichte eindampfen. Wie der Rezensent 1997 in seinem vielzitierten monografischen Essay »Scheitert Europa an seinem Mythendefizit?«1 gezeigt hat, sind die in der Vormoderne und Moderne entstandenen oder entstehenden Mythen Symptome von politischen Integrationsprozessen. Sie kritisch zu dekonstruieren bleibt eine vornehme Aufgabe der Geschichtswissenschaft, zugleich darf man darüber aber nicht ihre konstruktive Funktionalität verkennen, der die Entlarvung als Geschichtsklitterung in der Praxis im Übrigen wenig anhaben kann. Und das bleibt die Frage, ob es sich um Geschichtsklitterung handelt (Patel drückt es nicht so drastisch aus): Patel selbst zeigt im Zuge seiner faktografischen Genauigkeit, wie immer mehr von dem, was heute zur EU-Meistererzählung gehört, teils seit den 1970ern, teils seit den 1980ern, teils ab und nach Maastricht, durchaus zutrifft – allerdings eben nicht von Anfang an.

1 Wolfgang Schmale, Scheitert Europa an seinem Mythendefizit?, Bochum 1997 (Herausforderungen, 3).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Wolfgang Schmale, Rezension von/compte rendu de: Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München (C. H. Beck) 2018, 463 S., 12 Abb., 6 Tab., 3 Kt., ISBN 978-3-406-72768-9, EUR 29,95., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60216