Die dem antiautoritären Aufbruch von »1968« folgenden Emanzipationsbewegungen in der Bundesrepublik waren nie auf die alternativen Milieus der großen Universitätsstädte beschränkt. Auch in den eher kleinstädtisch und ländlich strukturierten Räumen der »Provinz« gab es im Schatten der gesellschaftlich-politischen Zäsur von »1968« eine unübersichtliche Vielzahl von konfliktorientierten Initiativen und Organisationsansätzen, die als Ausdruck ländlicher Emanzipationsbemühungen den Neuen sozialen Bewegungen zugeschrieben werden.
Darauf aufmerksam zu machen, dass die jüngeren Generationen in der »Provinz« in den Jahren bis 1990 alles andere als »verschnarcht« waren, ist mit dem von Julia Paulus herausgegebenen Sammelband gelungen. Aus der Perspektive der Regionalgeschichte werden hier Beiträge der vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte gegen Ende des Jahres 2014 in Münster organisierten Tagung »Neue soziale Bewegungen in der Provinz (1970–1990)« präsentiert. Die schon fast übliche Sperrigkeit von Tagungs- und Sammelbänden wird von der Herausgeberin durch eine kluge thematische Zuordnung der jeweiligen Beiträge weitgehend vermieden. Insgesamt stellt sich der Band als eine Fundgrube für an sozialen Bewegungen Interessierte dar, zumal die Autorinnen und Autoren über die einschlägige Literatur hinaus bisher weitgehend unbekannte Quellen anbieten können.
Julia Paulus spricht in ihrem einleitenden Beitrag nicht ganz unbegründet davon, dass die Tagung sowie der daraus resultierende Sammelband sich einem Forschungsdesiderat gewidmet haben, dem gegenüber sich das »vorherrschende(n) ›metropole(n)‹ Deutungsfeld – meist despektierlich – abzugrenzen« (S. 12) versuche. Insofern beabsichtige der Band, nicht allein das Besondere sozialer Bewegungen »abseits der großen Zentren« (S. 13), ihre Entstehungsbedingungen, Organisations- und Kommunikationsformen sowie ihre Einflüsse auf lokale und regionale politische Kulturen und Alltagsmentalitäten auszuloten, sondern darüber hinaus auch nach Wechselwirkungen zwischen den linksalternativen Initiativen von Provinz und Metropolen Ausschau zu halten.
Mit den zehn Einzelbeiträgen führt dieses durchaus ambitionierte Erkenntnisinteresse trotz der unübersichtlichen Vielfalt »provinzieller« Bewegungsinitiativen zu mehr als einem ersten Überblick. Denn die Autoren und Autorinnen können mit einem relativ offenen Begriff von »Provinz« arbeiten, der ihren jeweiligen Gegenständen und Untersuchungsperspektiven Raum gibt für spezifische Nuancierungen, die wiederum in der Summe der Beiträge auf gemeinsame Merkmale der Neuen sozialen Bewegungen abseits der Metropolen verweisen.
So kommt beispielsweise in allen Beiträgen zum Ausdruck, dass die Akteure in der Provinz trotz vieler Konflikte relativ erfolgreich waren mit ihren alternativen Projekten, wenn sie vorgegebene Organisations- und Kommunikationsmuster nicht völlig ignorierten und darüber in ihren Familien, Gemeinden und Städten nachhaltige Anerkennung erfuhren. Dies unterschied sie von eher exzentrischen Akteuren in Metropolen wie Frankfurt oder Berlin, die mit Verweis auf ihre ausgeprägte Deutungshoheit über Theorie und Praxis emanzipatorischer Bewegungen nicht selten einen Rigorismus vertraten, der im jeweils spezifischen sozialen und politischen Umfeld der Provinz eher in eine Sackgasse führte.
So wird im Beitrag von Hans-Gerd Schmidt über die Alternativbewegung in der Region Lippe darauf hingewiesen, dass es die »praxisorientierte Grundierung« (S. 87) der lokalen Aktivisten und Aktivistinnen war, die sich mit der zentralen Forderung »nach einer ›Beteiligungsdemokratie‹ (participatory democracy) mit wirksamen Teilhabe- und Mitwirkungsrechten« (ibid.) verband. Ebenso zeigt sich in den übrigen Beiträgen, ob über alternative Initiativen in der Eifel, dem Hunsrück, dem Allgäu oder dem Ruhrgebiet, dass es der »Aufbruchsgeneration« in der Regel nicht um temporäre Revolten ging, sondern um eine nachhaltige Öffnung bisher verschlossener sozialer, kultureller und politischer Räume.
Vor allem aber ist kennzeichnend für die Entstehung der Neuen sozialen Bewegungen die besondere Rolle der unmittelbar an die 1968er-Bewegung anschließende Jugendzentrumsbewegung ab 1969/70. David Templin, der bereits 2015 eine beeindruckende Dissertation über die Jugendzentrumsbewegung in den 1970er-Jahren vorgelegt hatte, kann in seinem Beitrag am Beispiel von Jugendzentrumsinitiativen in Franken-Hohenlohe deren zentrale Bedeutung für die regionale Netzwerkbildung alternativer Projekte nachzeichnen. Diese verstanden sich – dabei in Franken-Hohenlohe mehr oder minder von der Publikations- und Vermittlungsarbeit des Wertheimer Jugendzentrumsaktivisten Albert Herrenknecht beeinflusst – als politische Akteure einer linksalternativen Provinzarbeit.
Jugendzentren wirkten letztlich für viele Jugendliche als Durchgangsstation zu den nachfolgenden Neuen sozialen Bewegungen. Auch im hier anschließenden Beitrag (»Die Wiederentdeckung der Provinz«) von Bertolt Gießmann wird diese Dynamik der Jugendzentrumsbewegung verdeutlicht. Er verweist auf umfangreiche theoretische Bemühungen der ländlichen Emanzipationsbewegungen. Deren Ziel war es, sich mit Bezug auf die kritische Regionalismus-Diskussion dieser Jahre theoretisch und konzeptionell als autonome und von städtischen Projekten durchaus abzugrenzende politische und soziale Initiativen darzustellen.
Aus der Perspektive seiner »mikrohistorischen Untersuchung« (S. 179) rheinhessischer Initiativen der Jugendzentrumsbewegung sieht Gunter Mahlerwein in seinem Beitrag (»Revolte im Dorf?«) die »Jugendzentren als Spiegel von Beharrungs- und Wandlungsprozessen ländlicher Gesellschaften in den 1960er- und 1970er-Jahren« (S. 178). Seine Interviews mit ehemaligen Aktivisten und Aktivistinnen zeigen beispielhaft, dass im Unterschied zu großstädtischen sozialen Kontexten die »Beharrungskräfte« ländlicher Gemeinden sozial enger und damit persönlicher ausgeprägt waren. Dennoch war dies für die Dorfjugendlichen kein Hindernis, die aus den Metropolen signalisierte Öffnung der sozialen, kulturellen und politischen Räume begierig aufzusaugen und mit ihrem dem ländlichen Kontext angemessenen »Fingerspitzengefühl« für sich in Anspruch zu nehmen.
Summa summarum: Wenn von einer Eigenlogik emanzipatorischer Bewegungen in der Provinz zwischen 1970 und 1990 gesprochen wird, dann hat der vorliegende Sammelband mit seinen Beiträgen dazu erheblich beigetragen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Heiko Geiling, Rezension von/compte rendu de: Julia Paulus (Hg.), »Bewegte Dörfer«. Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970–1990, Paderborn, München, Wien, Zürich (Ferdinand Schöningh) 2018, 243 S., 49 s/w Abb. (Forschungen zur Regionalgeschichte, 83), ISBN 978-3-506-78804-7, EUR 49,90., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60217