Arbeitsmärkte sind äußerst flexible Orte, an denen Angebot und Nachfrage nach Arbeitskraft geregelt werden. Allein die Entwicklung in den letzten Jahren in Deutschland zeigt, wie dicht beieinander die Angst vor Massenarbeitslosigkeit und die Klage über fehlende Arbeitskräfte liegen.

Der Wirtschaftshistoriker Toni Pierenkemper spürt der Entwicklung des Verhältnisses von »Beschäftigung und Arbeitsmarkt« und der Ausbildung der »modernen Erwerbsgesellschaft in Deutschland« über die letzten rund 200 Jahre nach. Der Arbeitsmarkt entpuppt sich dabei keineswegs als Ort, an dem ausschließlich Arbeitskraft getauscht wird, sondern bietet Raum für Interessenkonflikte und ist – wie andere Märkte auch – sowohl ein »unsicherer Ort« als auch ein »Steuerungsinstrument« zur Zuweisung (Allokation) des Gutes Arbeit. Getauscht werden also auf dem Arbeitsmarkt nicht Personen, auch nicht festgelegte »Vollzüge von Arbeitsleistungen«, sondern »das Arbeitspotential oder, um einen marxschen Begriff zu verwenden, die Arbeitskraft […] als Ware« (S. 29f.)

Mit dem Fokus auf den Arbeitsmarkt definiert Pierenkemper Arbeit nicht in einem allgemeinen Sinn, sondern bezieht sich auf die Erwerbsarbeit. Die einführenden Reflexionen über den Arbeitsbegriff, die im abschließenden Kapitel wieder aufgegriffen werden, machen deutlich, dass Pierenkemper sich der Begrenztheit dieses Ansatzes bewusst ist. Doch durch den Fokus auf den Arbeitsmarkt muss sich Pierenkemper auf Erwerbsarbeit im Sinn von Lohnarbeit konzentrieren.

Pierenkemper entfaltet sein Thema chronologisch in vier Kapiteln, die sich jeweils den gleichen Gesichtspunkten zuwenden: dem Umfang und Strukturwandel der Beschäftigung, den Entwicklungen im Arbeitsmarkt (z. B. Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitslosigkeit, Erwerbspotential), den Bestimmungsfaktoren dieser Entwicklungen (Bevölkerungsentwicklung, Mobilität, Qualifikation, Frauen- und Kindererwerbstätigkeit) sowie den auf den Arbeitsmarkt einwirkenden Rahmenbedingungen (gesetzlicher Arbeitsschutz, Sozialversicherungen, Tarifparteien).

Das erste Kapitel behandelt neben begrifflichen und konzeptionellen Überlegungen die Arbeit in »der vormodernen Gesellschaft«. Dabei geht Pierenkemper unter anderem auf die Protoindustrialisierung und industrielle Revolution ein und verweist auf die Ausbildung früher Arbeitsmärkte in England und den Niederlanden, die ansonsten aber eine Ausnahme blieben.

Weit mehr als ein Drittel des Buches beschäftigt sich im zweiten Kapitel mit der »Entstehung der Lohnarbeit im 19. Jahrhundert«. Obwohl Pierenkemper die Schwächen des Sektorenmodells hervorhebt, zeichnet er die Entwicklung der Beschäftigung mit dem markanten Rückgang des Anteils landwirtschaftlicher Arbeit nach. Hinsichtlich der Arbeitslosigkeit konstatiert Pierenkemper für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine permanente Unterbeschäftigung. Die niedrige Arbeitslosenquote im Kaiserreich hatte einen realistischen Kern, da sich der Arbeitsmarkt äußerst flexibel und aufnahmefähig erwies. Staatliche Eingriffe in den Arbeitsmarkt erfolgten in dieser Zeit weitgehend nur vermittelnd durch die Sozialversicherungen sowie Arbeitsschutzgesetze.

Das dritte Kapitel widmet sich den Jahren zwischen dem Beginn des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das sich abschwächende Bevölkerungswachstum sowie der Anstieg der Lebenserwartung beeinflussten den Umfang des Erwerbspotentials. Je nach wirtschaftlichen und politischen Krisen herrschte auf dem Arbeitsmarkt Nachfragemangel oder Nachfrageüberschuss. Die Weltwirtschaftskrise hatte nicht nur die Massenarbeitslosigkeit zur Folge, sondern auch eine einmalige Strukturveränderung: 1933 arbeiteten »wieder mehr Erwerbstätige in der Land- und Forstwirtschaft als in Industrie und Handwerk« (S. 144).

Die 1927 eingeführte Arbeitslosenversicherung als »bemerkenswerteste soziale Innovation der Zeit« (S. 168) zerbrach allerdings schon wenige Jahre später an den Herausforderungen der Massenarbeitslosigkeit, wobei sich allerdings auf dem Höhepunkt der Krise 1932/33 das absurde Ergebnis ergab, dass der »Kreis der Anspruchsberechtigten durch administrative Maßnahmen so weit eingeschränkt worden [war], dass die Arbeitslosenversicherung sogar Überschüsse erwirtschaftete« (S. 169). Im Nationalsozialismus wurde der Arbeitsmarkt als Allokationsmechanismus ausgeschaltet; über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Aufrüstung herrschte ab 1936 Vollbeschäftigung.

Das vierte Kapitel behandelt den Zeitraum von der Zusammenbruchsgesellschaft bis in die unmittelbare Gegenwart. Hervorzuheben sind Pierenkempers Einschätzungen über die Bedeutung der Dienstleistungsbranche. Er sieht den Dienstleistungssektor überschätzt. Am Beispiel Großbritanniens erkennt Pierenkemper »keine dramatische Ausweitung des Konsums von Dienstleistungen, sondern eher der umgekehrte Fall einer Substitution von Dienstleistungen durch Güter«, etwa durch den Erwerb von Waschmaschinen, statt die Wäsche in die Wäscherei zu geben (S. 191). Relativ ausführlich geht Pierenkemper der Frauenerwerbsquote nach und kommt zu dem Ergebnis, dass die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt bis heute »nicht gelungen« sei (S. 220). Der Arbeitsmarkt in der DDR wird nur knapp auf sechs Seiten erwähnt, wobei es freilich im engeren Sinn auch keinen »Markt« gab, sondern über einen »Arbeitseinsatzplan« die »optimale Ausschöpfung des Arbeitspotentials der Gesellschaft« erreicht werden sollte (S. 227).

Das abschließende fünfte Kapitel widmet sich »Theorien des Arbeitsmarktes«, dem Aufbau einer Arbeitsverwaltung im Verlauf des 20. Jahrhunderts sowie der Zukunft der Arbeit. Pierenkemper erweist sich mit Blick auf die Digitalisierung der Arbeitswelt als Optimist. Schließlich hätten auch die vorangegangenen technischen Revolutionen »wachsende gesellschaftliche Wohlfahrt, sinkende Arbeitsbelastung für die Menschen und wachsende Freiräume individueller und kollektiver Art« (S. 273) mit sich gebracht. Statt »Rückgang der Erwerbsarbeit ist vielmehr ein Wandel der Formen der Erwerbsarbeit zu konstatieren« (S. 274). Auch die Hartz-Reformen auf dem Arbeitsmarkt sieht Pierenkemper weitgehend positiv: »Eine schmerzhafte Anpassung an die neuen Realitäten scheint damit relativ gut gelungen« (S. 274).

Pierenkemper ist ein über weite Strecken überzeugender Überblick gelungen, der zahlreiche sozial-, gesellschafts- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte aufgreift und unter einem klaren thematischen Fokus bündelt. Dennoch bleiben einige Monita. Etwas mehr Sorgfalt hätte dem Manuskript gutgetan: Vereinzelte Rechtschreib- und Kommafehler tauchen auf; ein Absatz wurde nicht im Blocksatz, sondern linksbündig gesetzt; die Beschriftung der ersten Tabelle des Buches ist fehlerhaft; in einzelnen Tabellen fehlen die Quellenangaben. Das Kapitel zur Theorie der Arbeitsmärkte hätte womöglich im Einführungskapitel einen passenderen Platz gefunden. Schließlich ist mit dem geringeren Zeitabstand zu den jüngsten Entwicklungen die Einschätzung nicht immer ausgewogen. Gelegentlich werden die überspitzten Kassandrarufe Hans-Werner Sinns zitiert, wenn es darum geht, Entwicklungen des modernen Wohlfahrtsstaats zu kritisieren: Dass in den 1970er-Jahren der »Arbeitsmarkt im Würgegriff der Gewerkschaften« (S. 242) gewesen sei, kann man sicherlich auch anders interpretieren. Von daher ist Pierenkempers Buch als historische Einführung durchaus zu empfehlen, doch für zeitnahe Entwicklungen hätten die Ambivalenzen der Entwicklungen stärker herausgearbeitet werden können.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jürgen Schmidt, Rezension von/compte rendu de: Toni Pierenkemper, Beschäftigung und Arbeitsmarkt. Entstehung und Entwicklung der modernen Erwerbsgesellschaft in Deutschland (1800–2000), Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2017, 321 S., 20 s/w Tab. 9 s/w Abb. (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte, 8), ISBN 978-3-515-11730-2, EUR 49,00., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60218