Die alte Vorstellung, dass es sich bei der Kulturkritik um ein spezifisch deutsches Phänomen handele, das im typischen, modernefeindlichen Reflex einer verspäteten Nation der Dichter und Denker gründe, ist von der neueren vergleichenden Forschung inzwischen gründlich widerlegt worden. Doch umgekehrt kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch im deutschsprachigen Raum kulturelle Verfallsnarrative seit dem späten 18. Jahrhundert zum festen Repertoire gesellschaftlicher Reflexionsdebatten gehören.

Der vorliegende Band versteht sich als Beitrag zu diesem Themenfeld. Es handelt sich um die dritte Sammelpublikation aus dem Forschungsprojekt »Werte + Wandel: dire et penser le changement dans le monde germanique« der interdisziplinären Forschergruppe Germanosphères, die an der Universität Clermont-Auvergne angesiedelt ist, an der auch beide Herausgeberinnen als Germanistin beziehungsweise Geografin tätig sind. Nach Auseinandersetzungen mit der »Stunde null«1 und den Motiven der »Innovation und Revolution«2 widmet sich die Gruppe diesmal den Diskursen um Verfall, Dekadenz und Niedergang im deutschsprachigen Raum seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs.

Ziel der Aufsatzsammlung ist es, die bisherige Forschung in zwei Richtungen zu erweitern. Zum einen wird dem üblichen Fokus auf dem (späten) 19. Jahrhundert eine Erörterung des 20. und frühen 21. Jahrhunderts zur Seite gestellt. Zum anderen werden dabei verschiedene neue Themenfelder erschlossen, aus denen sich insbesondere mit Blick auf den Bereich der Architekturgeschichte und Städteplanung in der Tat einige neue, überraschende Einblicke ergeben.

So schließt Cécile Poulots Auseinandersetzung mit dem Architekten Adolf Loos, in der dessen Diagnose einer kulturellen Zurückgebliebenheit des Habsburgerreichs im Kontrast zur modernen Dynamik der britischen und amerikanischen Gesellschaften im Mittelpunkt steht, nahtlos an den gelungenen Beitrag Barbara Rief Vernays zu den Kontroversen über den drohenden Verlust »Alt-Wiens« vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur unmittelbaren Gegenwart an. Dieser wiederum weist fruchtbare thematische Überschneidungspunkte mit der von Marian Günzel, Andreas Gravert und Thorsten Wiechmann vorgelegten Analyse der deutschen Debatten über das Problem der »Städteschrumpfung« auf.

Auch methodisch weisen die Beiträge eine große Bandbreite auf. Dem letztgenannten Beitrag liegt eine statistisch begründete, kritische Diskursanalyse zugrunde. Das Motiv »Alt-Wien« wird von Vernay nicht nur in seinen verbalen, sondern auch in seinen visuellen Ausprägungen untersucht. Clément Millons eingehende Analyse des Vokabulars, das in den politisch-juristischen Zeitschriften im Nationalsozialismus zwischen 1940 und 1945 zur Beschreibung des Verfalls der französischen Nation verwendet wurde, stellt sich in die Tradition der Lexikometrie. Am ehesten der Tradition der Begriffsgeschichte zuzuordnen ist der luzide formulierte Beitrag des Historikers Klaus Seidl. Dieser stellt ein größeres Forschungsprojekt zum engen und vielschichtigen Zusammenhang von Niedergangsdiskursen und Europäisierung im 20. Jahrhundert vor, das im Rahmen des (bedauerlicherweise nicht um eine zweite Förderphase verlängerten) Frankfurter Sonderforschungsbereichs 1095 »Schwächediskurse und Ressourcenregime« entsteht. In anderen Beiträgen wird der semantische Fokus des Bandes eher im Sinne eines close reading einzelner Autoren, Werke oder Strömungen aufgefasst.

Nicht alle Beiträge sind dabei gleich ergiebig. Die Germanistin Anneleen Van Hertbruggen legt eine detaillierte Lektüre einiger Gedichte des NS-Dichters Heinrich Anacker vor, deren Ergebnis, dass dieser die Weimarer Republik als dekadent darstellte, um das Dritte Reich als positive Gegenfolie hervorheben zu können, leider nicht sehr überraschend ist. Morgane Walters Überblick über das kulturkritische Werk des österreichischen Kunsthistorikers Hans Sedlmayer ist zwar durchaus reichhaltig, bietet gegenüber der neueren Forschung aber nicht viel Neues. Dass dabei in einer Fußnote ein in »Die Welt« veröffentlichter Text von Alexander Gauland als Hinweis auf den bis heute umstrittenen Status des mit dem NS-Regime verstrickten Sedlmayer zitiert wird, weist allerdings in der Tat auf die Aktualität ihrer Thematik hin.

Zwei weitere Beiträge sind schwierig einzuschätzen, da sie historische Analysen mit normativen Positionierungen verknüpfen. Veronica Ciantellis Auseinandersetzung mit der Rezeption der deutschen Mythenforschung des frühen 19. Jahrhunderts im 20. Jahrhundert bietet einen Überblick über die vielfältigen Versuche von etwa Oswald Spengler, Ludwig Klages, Walter Benjamin, Erich Fromm und Mircea Eliade, den Mythos als Kontrapunkt zur modernen Rationalität fruchtbar zu machen. Gleichzeitig ist der Text aber auch selbst eine kritische Auseinandersetzung mit der Möglichkeit dieses Weges. Die Denkbewegungen des Flensburger Pädagogen und Geschichtsphilosophen Christian Wevelsiep über das Ende der Geschichte, den Revolutionsbegriff und den Untergang des Nationalstaats würde man wohl als Parforceritt durch die abendländische Geistesgeschichte bezeichnen, wenn denn erkennbar wäre, welche Zielrichtung die hochgelehrte, aber frei mäandernde Argumentation eigentlich hat.

Die Gestaltung des Bandes ist auf sein (wohl hauptsächlich französisches) Zielpublikum zugeschnitten. Der Zugang zu den Texten in deutscher und französischer Sprache wird durch ausführliche, französisch- und englischsprachige Zusammenfassungen erleichtert. Außerdem werden die Autorinnen und Autoren zum Schluss noch einmal detailliert mit ihrem jeweiligen Werdegang vorgestellt. Positiv hervorzuheben ist außerdem, dass »le monde germanique« im Titel in diesem Fall tatsächlich nicht nur auf Deutschland beschränkt bleibt, sondern auch Österreich (wenn auch nicht die Schweiz) umfasst.

Inhaltlich bleibt der Ertrag jedoch eher unbefriedigend. Obwohl einzelne Beiträge jeweils interessante Aspekte hervorheben, stehen sie größtenteils unvermittelt nebeneinander. Das Ziel einer Erweiterung der Forschung wird so durchaus erreicht, aber um den Preis einer gewissen Beliebigkeit des Gesamtbildes. Eine stärkere inhaltliche und methodische Fokussierung der Beiträge wäre insofern wünschenswert gewesen.

1 Sibylle Goepper, Dana Martin (Hg.), L’»heure zéro« (Stunde Null) entre mythe et réalité dans la société et la culture, Dossier in: Allemagne d’aujourd’hui 2018/2, Nr. 224.
2 Fanny Platelle, Nora Viet (Hg.), Innovation – Révolution. Discours sur la nouveauté littéraire et artistique dans les pays germaniques, Clermont-Ferrand 2018.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Theo Jung, Rezension von/compte rendu de: Fanny Platelle, Hélène Roth (dir.), Le déclin dans le monde germanique. Mots, discours et représentations (1914–2014), Reims (Éditions et presses universitaires de Reims) 2018, 312 p., 9 ill., ISBN 978-2-37496-057-9, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60219