Der vorzustellende Band ist Teil der in den 1970er-Jahren von der Friedrich-Ebert-Stiftung initiierten Reihe; der Überblick über die Frühgeschichte der Arbeiter und ihrer Bewegungen ist mit ihm nun abgeschlossen. Jürgen Schmidt schließt an die von Jürgen Kocka verfassten Bände an1; es fällt schwer, ihn unabhängig zu lesen, weil in Kockas Bänden thematisiert wird, was seit Jahren von Interesse ist. Verständlich wird das nur, wenn man Entstehung und Dauer des Gesamtprojektes berücksichtigt, und auch das Spannungs- und Konkurrenzverhältnis zwischen Bundesrepublik und DDR, zu dem der Kampf um die Deutung der Geschichte – hier die der Arbeiterbewegung – gehörte.
Die Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung hat an Bedeutung verloren. Andere, vor allem zivil- und bürgergesellschaftliche und insbesondere kulturwissenschaftliche Ansätze, wurden vorherrschend. Schmidts Studie zeigt, wie intensiv die Forschung, auf die er sich stützen konnte, sich mit der Thematik Arbeiter und Arbeiterbewegung befasst hatte.
Die Arbeit ist chronologisch in drei große Teile gegliedert. Vorweg werden Begriffe wie soziale Bewegung, Klasse, Arbeiter, Bürger- und Zivilgesellschaft erörtert. Der Autor betont die Vieldeutigkeit des Arbeiterbegriffs im 19. Jahrhundert, der keineswegs unserem heutigen Verständnis und Bild vom »Arbeiter« als Facharbeiter entspricht, das ein Ergebnis der Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert ist. Dies festzuhalten ist insofern wichtig, als sich die Studie mit der frühen Phase befasst, die den Übergang von einer Handwerker- zu einer Arbeiterbewegung einschließt.
Der erste Teil gilt dem Vormärz mit Eckpunkten wie Julirevolution, Hambacher Fest, Weberaufstand und Pauperismus. Mit Blick auf die Arbeiterbewegung wird gerade in dieser Zeit deren transnationale Verflechtung sichtbar. In Westeuropa – namentlich in England und Frankreich – entstanden sozialpolitische, sozialtheoretische und auch frühsozialistische Ideen, die von wandernden deutschen Handwerksgesellen ebenso rezipiert wurden wie von im Ausland lebenden (deutschen) Intellektuellen.
Deutsche Handwerksgesellen wanderten europaweit und begegneten – etwa in Paris – exilierten Intellektuellen, aber auch französischen Revolutionären in der Nachfolge von François Noël (Grachus) Babeuf beziehungsweise Filippo Buonarroti. Es entstanden Geheimbünde und Vereine und mit Zeitschriften eine beachtliche Öffentlichkeit. Insgesamt war dies eine deutsche Öffentlichkeit im Ausland, die zugleich mit Blick auf die – geeinte – deutsche Nation agierte (S. 188). Schmidt fasst diese Aspekte der Transnationalität in der Hypothese zusammen, diese sollten nicht überschätzt werden (S. 189). Für die deutsche Seite sei die Rezeption vorherrschend gewesen: Frankreich sei zum »›Ideologielieferanten‹ der kontinentaleuropäischen Arbeiterbewegung« geworden, Robert Owen und die Chartisten »bescherten« praktische Organisationsbeispiele für die Arbeiterschaft (S. 189) und Geheimbundstrukturen stammten von Italienern wie Buonarroti und Giuseppe Mazzini. Deutsche Rückwirkungen auf Organisationsbestrebungen in Frankreich und Großbritannien seien begrenzt geblieben. Karl Marx und Friedrich Engels hätten noch keinen großen Einfluss gehabt, der Bund der Kommunisten in London sei nur eine kleine deutsche Exilorganisation gewesen. »Selbst auf intellektueller Ebene funktionierte die Zusammenarbeit schlecht« (S. 189).
Wenn dafür als Beispiel die fehlenden französischen Beiträge in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« angeführt werden, so ist das zwar zutreffend, aber die wohl bei Marx zu suchenden Gründen dafür hätte man gerne gelesen. Doch alles was mit Marx und dessen Umfeld zu tun hat, liegt dem Autor nicht. Für ihn war es vor allem der von Marx so heftig bekämpfte Wilhelm Weitling, der in den europäischen Zentren als selbständige Stimme einer sich organisierenden deutschen Arbeiterschaft wahrgenommen worden sei. Doch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass dessen Stern am Vorabend der Revolution von 1848 längst gesunken war, weil seine Vorstellungen nicht mehr als zeitgemäß oder hilfreich galten.
Der zweite Teil gilt der Revolution von 1848, einem zentralen Ereignis des 19. Jahrhunderts. Über die Feststellung, sie sei – jedenfalls in längerfristiger Perspektive – weder eine gescheiterte noch eine ausschließlich bürgerliche Revolution, herrscht seit langem Konsens, ebenso über das Fazit, in der Revolution von 1848 die »Geburtsstunde der modernen Arbeiterbewegung« zu suchen. In mehreren thematischen Blöcken wird diese »Geburt« aufgelistet und kontextualisiert. Auf Ursachen und Verlauf folgen die Analyse der Trägerschichten, die Kongressbewegung der Jahre 1848 bis 1850 und insbesondere die differenzierte Betrachtung der Arbeitervereine, der Arbeiterverbrüderung und des Bundes der Kommunisten.
»Geburtsstunde der modernen Arbeiterbewegung« war für Schmidt die Revolution insofern, als sie sich zu einem »zentralen Lernort« für die Arbeiter entwickelt habe mit nationalen Netzwerken und der Vorstellung von einer Gesellschaft, die Arbeiter und Gesellen als gleichberechtigte Bürger anerkennen sollte. Es entstanden anknüpfungsfähige Strukturen und Traditionskerne, die lange – zumindest bis 1989 – weiterwirkten.
An diese Verflechtungen, Kontinuitätsstränge und Einschnitte, auch in personeller Hinsicht, knüpft der dritte Teil der Arbeit an, der sich mit der zweiten Gründungsphase der Arbeiterbewegung, mit den 1850er- und 1860er-Jahren, befasst. Schmidt schildert diesen Gründungsprozess als parallel zu dem der Nationalstaatsbildung. Die so verwirrende und komplizierte Entwicklung mit kaum noch verständlichen Gegensätzlichkeiten der beiden sozialdemokratischen Arbeiterparteien – Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein (ADAV) und Vereinstag deutscher Arbeitervereine (VDAV) – hing eng mit deren unterschiedlichen Vorstellungen über die Ausgestaltung des künftigen Nationalstaats zusammen.
Seit langem ist das Problem der »Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie« thematisiert worden. Auch Schmidt greift diese Frage auf, wobei er deutlich macht, dass die frühe Arbeiterbewegung zwar ohne das Vorbild des bürgerlichen Vereins nicht vorstellbar sei, aber einen Prozess der Selbstvergewisserung durchlief, zu dem auch Erfahrungen gehörten, die eher die Trennung von Arbeiterschaft und Bürgertum förderten als die Kooperation. Das bedeutet freilich auch, dass die Sozialdemokratie als Antwort auf die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen nicht alternativlos war. Es gab mit der konfessionellen und liberalen Arbeiterbewegung andere Antworten.
War das nun eine Erfolgsgeschichte? Eindeutig kann erwartungsgemäß die Antwort nicht ausfallen. Dennoch ergab sich ein bemerkenswerter Erfolg dieser frühen Arbeiterbewegung »aus dem Zusammenspiel zwischen politisch-organisatorischer Arbeit in einer sich stabilisierenden Vereinsstruktur, bürgergesellschaftlichem Engagement von aktiven, als Staatsbürger auftretenden Arbeitern und klassenkämpferischer Rhetorik, Programmatik und Utopie« (S. 569). Titel und Untertitel des Bandes hatten diese Bilanz angekündigt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Beatrix Bouvier, Rezension von/compte rendu de: Jürgen Schmidt, Brüder, Bürger und Genossen. Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Bürgergesellschaft 1830–1870, Bonn (Dietz) 2018, 651 S. (Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegungen in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 4), ISBN 978-3-8012-5039-3, EUR 68,00., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60222