Die Musealisierung des Holocaust ist schon seit Längerem in den Blickpunkt der Forschung gerückt. Auch international vergleichende Studien wurden dazu vorgelegt. So hat etwa Matthias Haß bereits 2002 die israelische Gedenkstätte Yad Vashem, das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) und die Topografie des Terrors in Berlin untersucht. Auch der Ort der Information des Denkmals für die ermordeten Juden Europas, das Jüdische Museum Berlin, das Holocaust Center in Oslo, das Holocaust Memorial Center in Budapest sowie das Deutsche Historische Museum und das Londoner Imperial War Museum wurden schon in vergleichende Forschungen einbezogen1.
Ines Seiter nimmt in dem hier zu besprechenden Buch fünf Institutionen in den Blick: Neben dem bereits erwähnten USHMM, Yad Vashem und der Topographie des Terrors betrachtet sie auch das Anne Frank Haus in Amsterdam und das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau. Vor allem deren transnationale Einbindung in das Stockholm International Forum on the Holocaust im Jahr 2000 und in die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) war für Seiter bei der Auswahl ausschlaggebend. Denn ihr geht es um die in den Ausstellungen vermittelten Werte, wie sie auch in diesen Foren unter dem Stichwort »Holocaust Education« grenzübergreifend diskutiert wurden und werden (vgl. S. 14–16).
Die in den Museen präsentierten Narrative seien stets ein »Balanceakt zwischen historischer Korrektheit und emotionaler Ansprache sowie moralischer Botschaft an den Besucher« (S. 53). Um letztere freizulegen, zieht Seiter, die Religionswissenschaftlerin ist, den Begriff der »Zivilreligion« heran. Diese definiert sie als »ein konfessionsfreies Kommunikations-, Deutungs- und Symbolsystem, das zur Sicherstellung eines politischen, sozialen und weltanschaulichen Zusammenhalts freier Bürger in einem Staatswesen dient« (S. 42). Staatlich zugesicherte (Grund)Rechte erhielten dabei »einen zusätzlichen moralischen Wert« und würden »zu erstrebenswerten Zielen aufgebaut« (S. 43). Zivilreligiöse Werte seien in erster Linie die Menschenrechte; weiterhin nennt Seiter – in teilweiser Überschneidung mit den Menschenrechten – Toleranz, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Solidarität, Verantwortung, (Religions)Freiheit, Demokratie, Volkssouveränität und Bürgerrechte (vgl. ibid.).
Die theoretische Grundlage, auf die Seiter ihre Arbeit anhand einschlägiger Literatur stellt, umfasst auch Ausführungen zu Erinnerungs- und Gedächtnistheorien sowie zu raumtheoretischen und museumswissenschaftlichen Aspekten. Auf den Theorieteil folgen fünf Kapitel, die die Holocausterinnerung der einzelnen Länder – USA, Israel, Deutschland, Niederlande und Polen – und die genannten Museen behandeln. Die Autorin geht dabei stets nach dem gleichen, klar strukturierten Schema vor: Zunächst betrachtet sie die jeweilige Holocausterinnerung im historischen Kontext, das heißt, sie stellt deren Entwicklung anhand der bekannten Ereignisse und Zäsuren dar. Dabei bewegt sich die Arbeit auf dem Stand der Forschung, auch wenn man manches Standardwerk im Literaturverzeichnis vermisst; Flüchtigkeitsfehler haben sich außerdem eingeschlichen.
In einem zweiten Teil werden die einzelnen Museen, ihre Geschichte und Konzeption beschrieben und schließlich die heutigen Ausstellungen auf die vermittelten Werte hin geprüft. Hierfür schildert Seiter anschaulich Gebäudearchitektur und Raumgestaltung und diskutiert die musealen Bemühungen um Authentizität sowie den Einsatz von Zeitzeugenaussagen. Einige Seiten zu »zivilreligiösen Werten« schließen die Abschnitte zur Wertevermittlung jeweils ab. Angesichts des Untertitels des Buches, der die »Vermittlung zivilreligiöser Werte« explizit zum Thema macht, verwundert diese Gewichtung etwas. Ein Grund dafür mag in dem Ergebnis der Studie liegen, dass diese »Werte in den meisten Fällen in den Museen nicht direkt angesprochen« (S. 381) werden. Sie stünden, so Seiter, vielmehr »im Kontrast zu den thematisierten Verletzungen dieser Werte im Holocaust« und seien als »intendierte Botschaften […] mehr oder minder deutlich aus den Exponaten und Erklärungen herauszulesen« (ibid.).
Nichtsdestotrotz liefert das Buch nicht nur gut nachvollziehbare Beschreibungen der fünf Institutionen, sondern es macht auch das Spannungsfeld deutlich, in dem sich die Holocausterinnerung bewegt: Globalisierung und Universalisierung auf der einen und nationale Codierung auf der anderen Seite2. So finden sich in den untersuchten Ausstellungen zum Teil ähnliche und identische Werte beziehungsweise Ziele, die aus der Geschichte des Holocaust abgeleitet werden und für die heutigen Gesellschaften als relevant erachtet werden, wie etwa Demokratie oder Wachsamkeit gegenüber Antisemitismus und Rassismus (vgl. z. B. S. 107f., 112, 153, 202, 357). Zugleich sind die Museumsnarrative deutlich länderspezifisch geprägt und weisen ihren Staaten bestimmte Rollen zu, die Raul Hilbergs Unterscheidung von Tätern, Opfern und Zuschauern entsprechen3.
Im »Täterland« Deutschland hebt die Topographie des Terrors vor allem auf die Frage nach der Schuld und dem Versagen der Gesellschaft ab (vgl. S. 199). Erinnerung und Gedenken an die Opfer sind für Yad Vashem und das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau zentral (vgl. S. 136, 310). Für die israelische Gedenkstätte stellt Seiter dabei eine Verschiebung von der Heldenerzählung zur Opfersicht fest (vgl. S. 155f.); die für den Gedenkort Auschwitz lange prägende Opferkonkurrenz zwischen polnisch(katholisch)en und jüdischen Opfern benennt die Autorin, identifiziert sie in der Ausstellung aber nicht in ihrer ganzen Dimension (S. 354). In der bystander-Rolle sieht wiederum das USHMM die USA und wirft mit dem Abschnitt »Why was Auschwitz not bombed?« die Mitschuldfrage auf (vgl. S. 110). Das Anne-Frank-Haus in Amsterdam dagegen klammere das Thema Kollaboration und Mittäterschaft aus, um sich auf die »angenehmere Selbstwahrnehmung« (S. 279) zu konzentrieren: die Geschichte der Helfer.
Besonders spannend sind tagespolitische Funktionalisierungen der Museen und der dort vermittelten Werte, wenn etwa in Israel die Lehren aus dem Holocaust mit der immer wieder instabilen Sicherheitslage und der Bedrohung durch arabische Staaten verknüpft werden (vgl. S. 158) oder wenn Angehörige amerikanischer Bürgerrechtsgruppen das USHMM für ihre Zwecke nutzen (vgl. S. 376). Leider erwähnt das Buch solche Aspekte nur am Rande und beschränkt sich in seinem Vergleichskapitel auf die nationalen Erinnerungskulturen. Stattdessen die Museen und die Wertevermittlung in den komparativen Mittelpunkt zu rücken, wie es so nur in der Schlussbetrachtung geschieht, hätte zu aufschlussreicheren Einsichten führen können. Ansatzpunkte zum Weiterdenken bieten sich mit Seiters Studie, wie deutlich wird, aber allemal.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Katrin Hammerstein, Rezension von/compte rendu de: Ines Seiter, Holocausterinnerung im Museum. Zur Vermittlung zivilreligiöser Werte in nationalen Erinnerungskulturen im Vergleich, Baden-Baden (Nomos) 2017, 409 S., ISBN 978-3-8487-4428-2, EUR 79,00., in: Francia-Recensio 2019/1, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.1.60224