Nicole Pons, deren Gedenken der vorliegende Sammelband gewidmet ist, arbeitete seit den 70er Jahren als Teil der Équipe de recherche sur l’humanisme français des XIVe et XVe siècles an der Erforschung des Frühhumanismus und der politischen Kultur des spätmittelalterlichen Frankreich. Die großen Verdienste, die sich Pons auf diesen Gebieten erworben hat, werden von der abgedruckten Bibliografie ihrer Arbeiten dokumentiert. In drei Abschnitten (»À la recherche des textes«; »Les cercles d’intellectuels«; »La pensée politique des intellectuels«), die thematisch nicht scharf voneinander getrennt sind, gruppieren sich die Beiträge um Pons’ Forschungsinteressen1.
Der erste Abschnitt stellt die Arbeit im Archiv in den Fokus. Bénédicte Sère verfolgt in ihrem Beitrag das Interesse von Nicole Pons an den dossiers polémiques des Hundertjährigen Kriegs. Die Untersuchung dieser Zusammenstellungen verschiedener »propagandistischer« Schriften unter Berücksichtigung ihres état archivistique und der Blick auf die sozialen und politischen Verflechtungen, die sie offenlegen können, dienen Sère als Anregung für die Formulierung eines Forschungsprojekts zu den dossiers im Kontext des Großen Schismas.
Die Lesepraxis des Protokollführers Nicolas de Lespoisse wird von Isabelle Guyot-Bachy in ihrem Beitrag anhand der Anmerkungen untersucht, die dieser in sein Exemplar der »Chonique abrégée des rois de France« geschrieben hat. Guyot-Bachy systematisiert die Randbemerkungen und schafft das überzeugende Profil eines Lesers, den die verschiedenen historischen Inhalte seiner Lektüre auch in Hinblick auf seine Gegenwart interessierten. Franck Collards Untersuchung bietet eine gründliche Übersicht über die Briefsammlung von Gérard Machet. Die Briefe des Bischofs hätten ihren Wert besonders für die Kirchen- und Universitätsgeschichte der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und böten Einblicke in die Politik und Person Charles’ VII. Eine epistolografische Brücke zwischen der ersten Generation französischer Humanisten um Jean de Montreuil und der zweiten Generation um Robert Gaguin bilde die Briefsammlung jedoch nicht.
Kathleen Dalys Beitrag verweist auf Gemeinsamkeiten zwischen Mathieu Thomassins »Registre delphinal« und einer im Kontext der Verhandlungen Charles’ VII. mit dem Herzog von Savoyen 1456 entstandenen lateinischen Denkschrift. Thamassin entwickelt in seinem Text eine Interpretation königlicher und delphinaler Macht, die sich aus den Theorien königlicher Juristen und seiner eigenen Erfahrungen in der Dauphiné speist.
Verschiedene, vor allem humanistische Gelehrtenkreise stehen im Zentrum des zweiten Abschnitts. Nathalie Gorochov fragt nach den Einflüssen des Humanismus und besonders Petrarcas an der Universität Paris vor der ersten Generation französischer Humanisten ab 1380. Dabei rückt sie italienische Studenten und Lehrer des Collège des Lombards in den Fokus. Wünschenswert wäre eine Vertiefung dieser spannenden Fragestellung in weiteren Untersuchungen. Nicolas de Clamanges verfolgte mit der Redaktion seiner Briefsammlung, so Dario Cecchetti in seinem Beitrag, das Ziel eines einheitlichen corpus nach dem Vorbild Petrarcas. Detailliert zeichnet Cecchetti die Anleihen nach, die Clamanges in seinen Briefen auch bei Cicero und Seneca machte, und kann zeigen, dass dieser gleichzeitig unter dem Einfluss der ars dictaminis seiner Sammlung eine Reihe formulae hinzufügte. Die Edition zweier Briefe Clamanges’ schließt den Aufsatz ab.
Der Beitrag von Camille Rouxpetel beschäftigt sich ausgehend von den Arbeiten von Nicole Pons zu Guillaume Saignet mit den Kontroversen um das Zölibat und die Aufnahme Verheirateter in den Priesterstand zur Zeit des Großen Schismas. Rouxpetel stellt mehrere Abhandlungen zu diesem Thema vor und verortet sie im Kontext von Reformbemühungen, Kreuzzugsplänen und der actualité grecque, die letztlich mit der Frage nach der Beziehung zwischen der Ost- und Westkirche auch die Frage nach der Definition der Christenheit stellte. Lucie Jollivet untersucht in ihrem Beitrag gründlich die verschiedenen Argumentationsstrategien, die den Mord an Louis d’Orléans als Tyrannenmord rechtfertigen oder das Attentat als vorsätzlichen Mord verurteilen und in dessen Folge das Recht bedroht sehen. Als Verteidiger des Opfers treten dabei besonders Humanisten wie Nicolas de Clamanges, Alain Chartier oder Jean Gerson auf, die in diesem Kontext eine Stellung in der Gesellschaft als intellektuelle Berater – letztlich erfolglos – beanspruchten.
Die poetische Beschreibung Frankreichs durch den italienischen Humanisten Antonio Astesano ist der Gegenstand des Beitrags von Clémence Revest. Kennzeichnend für den Text sei besonders die teilweise artifizielle humanistische Gestaltung, die sich aus einer Fülle von antiken Verweisen und Vergleichen speist – Paris als zweites Rom, der Autor selbst als Sallust etc. Die verhinderten Ambitionen Astesanos, die auch darauf zielten, ein humanistisches Epos für Charles VII. zu schreiben, veranschaulichen den noch schwachen Austausch zwischen französischer Kultur und italienischem Humanismus in der Mitte des 15. Jahrhunderts.
Der dritte Abschnitt führt in die politische Gedankenwelt der Intellektuellen des spätmittelalterlichen Frankreich. Marigold Anne Norbye untersucht in ihrem Beitrag genealogische Diagramme, die im Kontext des Hundertjährigen Kriegs die Legitimität royaler Abstammung visualisieren sollten. Norbye kann sowohl eine Reihe englischer als auch französischer Beispiele dieser Strategie anführen. Interessant sind die Varianten der kurzen Chronik »A tous nobles«, die in ihren verschiedenen Überlieferungen mit jeweils verschiedenen Adressaten unterschiedliche Stammbäume zur Visualisierung des französischen Anspruchs auf den Thron integrieren. Die Illuminationen in einem Manuskript des Textes »De cas des nobles hommes et femmes«, einer Boccaccio-Übersetzung durch den Humanisten Laurent de Premierfait, sind der Gegenstand des Beitrags von Anne D. Hedeman. Die prominente Darstellung der Zerstörung Jerusalems innerhalb des Manuskripts, das für Jean de Berry bestimmt war, sei sowohl als Zeichen der visuellen Kultur der Zeit als auch als Referenz auf das zeitgenössische Ereignis des Bürgerkriegs zu verstehen. Jean-Marie Moeglin untersucht in seinem Beitrag beginnend mit Jean de Montreuils »Traité contre les Anglais« mehrere Abhandlungen gegen die Engländer im Kontext des Hundertjährigen Kriegs. Sie waren gedacht, um sowohl Argumente für Botschafter bereitzustellen als auch die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Darüber hinaus, so Moeglin überzeugend, zeichnete sich durch sie ein Wandel der Wahrnehmung ab: vom Krieg der Ritter hin zu einem patriotischen Krieg nationaler Verteidigung gegen England.
Der Zugang zu den Beiträgen wird durch ein Register und knappe Zusammenfassungen in französischer und englischer Sprache unterstützt. Der interessante Band kann besonders mit seinen Beiträgen zum Humanismus an die wichtigen Sammelbände anschließen, die der Kreis um Nicole Pons in den 1990er Jahren vorgelegt hat2.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Tilman Meyer, Rezension von/compte rendu de: Carla Bozzolo, Claude Gauvard, Hélène Millet (dir), Humanisme et politique en France à la fin du Moyen Âge. En hommage à Nicole Pons. Actes des journées de Villejuif (17–18 mars 2016, Campus du CNRS), Paris (Éditions de la Sorbonne) 2018, 262 p., 1 ill. (Histoire ancienne et médiévale, 156. Série du LAMOP, 4), ISBN 979-10-351-0076-6, EUR 28,00, in: Francia-Recensio 2019/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62791