Da wird gegen Ende ein schon recht großer Anspruch formuliert: »Aus genuin historischer Sicht bieten die Ergebnisse dieser Studie Anknüpfungspunkte für ein neues Narrativ, eine neue Interpretation der spätmittelalterlichen französischen Geschichte.« Und mehr noch: »Aus systematisch-komparatistischer Sicht lässt sich die Frage nach der Spezifik bzw. der Übertragbarkeit des französischen Beispielfalles unter Rückgriff auf soziologische Theorieentwürfe schließlich auch auf weitere historische Formationen jenseits der spätmittelalterlichen Epoche ausweiten« (S. 427). Hoch die Erwartungen also in der Sache und nicht ganz so hoch an Sprache und Stil. Und französische Leserinnen und Leser, an die sich das Buch sicher nicht zuletzt auch wendet, werden entzückt sein über Juwele kristallklarer Verständlichkeit und federleichter Eleganz wie: »Aus diesen Überlegungen ergibt sich zugleich, dass systematisch-komparatistische Ansätze die jeweiligen Vergleichsgegenstände unter Zugrundelegung externer Analysekategorien zuallererst konstituieren und die im einzelnen zu betrachtenden Phänomene dadurch überhaupt erst vergleich- und operationalisierbar machen müssen« (S. 438).
Auch die vielen umständlich-selbstreferenziellen Auslassungen tragen das Ihre zu manchen Lesemühen bei und ließen den Rezensenten nach langem Sprachkampf durch fast 500 theorieschwere Seiten, bei denen Luhmann und Co. eine weitaus wichtigere Rolle als die Muse unserer Disziplin spielen, nochmals zu den beiden, genau das Sujet von Georg Jostkleigrewe behandelnden Monografien von Raymond Cazelles greifen1: Schreibfertigkeit, Anschaulichkeit und eine Verpflichtung auf die Febvresche Leitfrage »Et l’homme dans tout cela?« demonstrieren, dass auch eine problemorientierte Geschichtsschreibung durchaus unter Clios Patronat stehen kann, dass Menschen auch im Geflecht der Strukturen ihr Profil nicht verlieren müssen und Historiker und Historikerinnen nicht nur an den Altären der Theorie und Forschung zu dienen haben, sondern dabei durchaus auch der Erzählkunst verpflichtet sein dürfen.
Thematisch berühren sich die Werke beider Autoren, wie gesagt, aufs Engste, denn trotz ihres allgemeinen Titels – fast möchte man von einem »titre trompeur« sprechen – bezieht sich auch die Studie von G. Jostkleigrewe jenseits ihrer Ausblicke und generellen Schlussfolgerungen konkret auf das Frankreich der Zeit Philipps VI. (1328–1350) wie auf das Johanns II. (1350–1364) und Karls V. (1364–1380). Bis in den Buchtitel rekurriert sie auf den gerade durch Cazelles in die französische Geschichtswissenschaft implementierten Begriff der »société politique«, setzt ihn mithin, obgleich in Deutschland in diesem Zusammenhang wohl nur einem Spezialistenkreis geläufig, als allgemein bekannt voraus (eine kurze Erklärung folgt erst S. 38f.). Doch möchte sie diese société politique auf anderen Wegen neu erschließen, indem sie das Schneidmüllersche Modell konsensualer Herrschaft als Raster auf Gesellschaft und Politik Frankreichs um die Mitte des 14. Jahrhunderts legt, weil zwar »in der derzeitigen französischen Spätmediävistik […] die Aufarbeitung konsensual geprägter Interaktionen eine gewisse Rolle« spielt, »ohne dass dabei der Bezug zum Konzept konsensualer Herrschaft reflektiert oder ein verbindender theoretischer Rahmen entwickelt worden wäre« (S. 361). Arme theoriedarbende Kolleginnen und Kollegen im Hexagon: Auf zum Nachhilfeunterricht, derweil unsereins weit voraus ist, da hierzulande Schneidmüllers Modell schon »innerhalb weniger Jahre Klassikerstatus erlangt« (S. 17) hat.
Sieht man einmal von solchen Ungeschicklichkeiten, von all den Lesezeit kostenden Schwerfälligkeiten und auch Rückversicherungsschleifen ab, so ist diese Münstersche Habilitationsschrift in der Sache durchaus von Interesse. Sie unterscheidet drei Modi der Interaktion – dies ist der Leitbegriff der Studie schlechthin –, in denen die, wie bei Cazelles, sehr weit definierte société politique agiert und reagiert. Dabei liegt es dem Verfasser wohlgemerkt daran zu zeigen, wie die jeweiligen Akteure im politischen Leben miteinander umgehen und nicht, wie eine Zentralgewalt von oben durchregiert:
(1) Auf regionaler Ebene herrscht meist Gewaltbereitschaft vor, die je nach Opportunität indes auch mit juristisch-administrativen Maßnahmen einhergehen bzw. alternieren kann; als Exempel hierfür dienen die Interaktionen zwischen dem Titularherzog von Athen Gautier de Brienne und den Repräsentanten bzw. Institutionen des monarchischen Staats.
(2) Doch stärker im Fokus stehen jene konfliktträchtigen Parteikonstellationen, die eigentlich schon an den Zusammenhalt des Königreichs rühren können wie etwa der Zwist zwischen Königtum und einem sich in seinen berechtigten Ansprüchen vom Monarchen hintergangen fühlenden Robert von Artois, die jedoch die Kohäsion des Ganzen nicht zu erschüttern vermögen, solange nur der Herrscher für alle Involvierten die anerkannte zentrale Bezugsperson bleibt.
(3) Erst wenn er als solche ausfällt oder selbst zum Mitglied einer Partei wird, sind, wie im Fall Johanns II. »des Guten« und Karls II. von Navarra »des Bösen«, die Formen politischer Kommunikation und Interaktion grundlegend gestört und blockieren sich gegenseitig. Als Folge solcher Dysfunktionalität bricht offener, nunmehr auch auf die Spitzen der Gesellschaft ausgreifender Konflikt aus, wiederum einhergehend mit dem juristisch-administrativen Interaktionsmodus.
Dennoch ist und bleibt das Fundament jeglicher Ordnung eine auf »konsensual fundierten Interaktionsmechanismen« (S. 444) basierende Kohäsion der Gesellschaft, die ihre jeweiligen Rang-, Partizipations- und Herrschaftsansprüche gegenseitig anerkennt und somit über personale Beziehungen funktioniert. Sie sind der Kitt, der alles zusammenhält, doch können sie, da in Permanenz Wandel und Fluktuation unterworfen, eben auch Konflikte bewirken. Bei deren Behebung kommt einmal mehr die unter den Stichworten Justiz und Administration subsumierte Schlagkraft eines Staatsapparates ins Spiel, dessen Genese und Ausformung bekanntlich gerade die französische Forschung immer wieder als Muster einer institutionell durchstrukturierten Monarchie gewertet hat und wertet.
Dieses Momentum stellt der Verfasser auch nicht grundsätzlich infrage, wie er überhaupt merklich um Absicherung durch Einbindung anderer Forschungsansätze bemüht ist, allein es handelt sich für ihn um ein sekundäres, nachgeordnetes Phänomen. Als primär und essenziell für das Profil des französischen Königreichs im Spätmittelalter erscheinen vielmehr die Akteure eben in jenen relevanten, auf das Königtum hin ausgerichteten Personalnetzen. Der Herrscher ist Mittler und Integrator der politischen Gesellschaft, auf ihn laufen letztlich alle Interaktions- und Kommunikationsstränge zu, Rechts- und Verwaltungsinstanzen sind hierbei lediglich Instrumentarien. So also nimmt sich der französische Sonderweg aus: In einem tiefer als angenommen noch archaisch-traditionellen Formen verhafteten Frankreich entwickelt sich der Anstaltsstaat erst auf bzw. aus dem Urgrund konsensual geprägter Personenbeziehungen.
Durch die Übertragung eines vornehmlich im römisch-deutschen Reich des Mittelalters beobachteten Phänomens setzt Jostkleigrewe einen durchaus diskutierenswerten neuen Akzent; indes bedeutet dies gleich besagt neue – und d. h. doch wohl: treffendere – Interpretation einer bis in die Neuzeit reichenden Epoche französischer Geschichte? Oder könnte man – ein Gedankenspiel – im Gegenteil noch weit darüber hinausgehen und das Ganze als eine zwar je nach Ort und Zeit variierende, so doch feste anthropologische Konstante fassen, die vom alten Rom bis in die Sozialphilosophie unserer Tage Wirkkraft entfaltet? So wurde etwa der römische Prinzipat von Egon Flaig als ein Akzeptanzsystem charakterisiert, dessen Spitze mit allen relevanten Gruppierungen von der Armee über den Senat bis zur plebs urbana einen kommunikativen Konsens herstellen musste, um als legitime Leitinstanz bestehen zu können2. Oder man denke an den Stellenwert von Anerkennungsbeziehungen als Zentrum interpersonaler Beziehungen im Denken der jüngeren Frankfurter Schule (Axel Honneth) mitsamt deren vielfältigen Verwurzelungen etwa bei Hegel oder in der amerikanischen Mikrosoziologie. Allein, wäre das und noch so vieles Andere einfach vergleich- und übertragbar?
Denn selbst wenn man, um beim Thema zu bleiben, Jostkleigrewes Modell als stimmig für das Frankreich Philipps VI. akzeptierte, hätte es nur wenige Jahrzehnte später in der großen Krise um und nach 1400 überhaupt noch Gültigkeit? Nach meiner Einschätzung fielen damals letztlich die etatistischen Fundamente und Strukturen auf allen Ebenen des Königreichs bis vor Ort, die Qualität der »grands corps de l’État«, der universitär ausgebildeten Beamtenschaft – mitsamt deren eigenen Interaktionen – für den Wiederaufstieg entscheidender ins Gewicht als Interaktion und Konsens in einem Geflecht, dessen königliche Mitte unter Karl VI. und dem frühen Karl VII. ohnehin weitgehend ausfiel.
Erst vor solchem Hintergrund konnte doch jene Gestalt überhaupt ihre Wirkkraft entfalten, in der sich dann das Element personaler Beziehung zum Herrscher denkwürdig verdichtete, und so ist auch das klassische Dictum eines Bernard Guenée zu verstehen: »L’apparition de Jeanne d’Arc n’est pas un miracle, c’est un aboutissement.« Weiter heißt es bei ihm im selben Zusammenhang: »En France, le rôle primordial a été tenu par les serviteurs de l’État3.« Und entsprechende Ausführungen seiner – von Jostkleigrewe darob kritisierten – Schülerin Claude Gauvard (S. 428ff.) scheinen mir, ähnlich den Darstellungen von Contamine, Autrand, Krynen u. a., nach wie vor die rechten Maßstäbe zu setzen. Auch sprachlich-stilistisch.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Georg Jostkleigrewe, Monarchischer Staat und »Société politique«. Politische Interaktion und staatliche Verdichtung im spätmittelalterlichen Frankreich, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2018, 493 S., 1 Abb. (Mittelalter-Forschungen, 56), ISBN 978-3-7995-4378-1, EUR 58,00., in: Francia-Recensio 2019/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62814