Der umfangreiche Sammelband geht auf eine Tagung in Den Haag im Juni 2015 zurück, die in der Schlussphase des niederländischen Projektes »Marginal Scholarship: The Practice of Learning in the Early Middle Ages (c. 800–1000)« stattfand. Die Beiträge thematisieren füglich Fallbeispiele vor allem aus dem frühen und hohen Mittelalter; in der Gesamtschau auf die unterschiedlichen Typen, Techniken und Intentionen von Marginalien und Kommentaren in Handschriften sind sie jedoch durchaus repräsentativ. Gleichwohl fällt auf, dass die ohnehin prominenten Autoren, Autografen und autornahen Handschriften breiten Raum einnehmen.

Nach einer knappen Einführung in die jüngere Forschungsgeschichte, in der Gernot Wieland und David Ganz Schlüsselstellen zugebilligt werden, und in die Konzeption des Bandes durch die beiden Herausgeberinnen (S. 1–9) eröffnet Mariken Teeuwen, »Voices from the Edge: Annotating Books in the Carolingian Period« (S. 13–36), die erste Sektion (»Scholars and Their Books: Practices and Methods of Annotating«) mit einem Resümee der Anlage und Ergebnisse des genannten Projekts und seiner Datensammlung, in der ca. 350 Codices erfasst wurden (https://www.marginalscholarship.nl). Evina Steinová, »Technical Signs in Early Medieval Manuscripts Copied in Irish Minuscule« (S. 37–85), extrahiert und analysiert aus 13 Handschriften des 8. und 9. Jahrhunderts, die teils dem Umfeld des Sedulius Scottus zuzurechnen sind (wie der bekannte Bernensis 363), teils aus Nordfrankreich auf die Reichenau gelangten, einen instruktiven Katalog derartiger Zeichen, deren Funktion freilich nicht immer sicher erklärt werden kann, und weist auf markante Unterschiede zu karolingischen Usancen hin.

Giorgia Vocino, »A Peregrinus’s Vade Mecum: MS Bern 363 and the ›Circle of Sedulius Scottus‹« (S. 87–123), konzentriert sich auf jenen Bernensis und entwickelt aus einer Typologie und Stratigraphie der Marginalien, kodikologischen Beobachtungen und dem Textprogramm ein Profil des Schreibers und Kompilators als eines »scholar on the move« (S. 122). Warren Pezé, »The Making of the De praedestinatione of Ratramnus of Corbie (Including the Identification of a New Personal Manuscript)« (S. 125–155), beschreibt, ausgehend von der einschlägigen Arbeit von David Ganz, die Exzerpierungsmethoden und -zeichen des Ratramnus (und eines Mitarbeiters) für die 849 entstandene Abhandlung und macht mit Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, ms. theol. lat. fol. 346 eine weitere Arbeitshandschrift des Gelehrten aus. Giacomo Vignodelli, »The Making of a Tenth-Century Self-Commentary: The Glosses to Atto of Vercelli’s Perpendiculum and Their Sources« (S. 157–196), stellt die beiden mehr oder minder obskuren Redaktionen der nach 952 verfassten Schrift vor und identifiziert als Quellen der von Atto selbst beigegebenen interlinearen und marginalen Glossen neben in Vercelli verfügbaren Glossaren, dem Psalmenkommentar Cassiodors und Boethius’ »Consolatio philosophiae« auch kommentierte Handschriften etwa des Persius und Iuvenal, die auf eine Verbindung zur Schule von Auxerre schließen lassen.

In der zweiten Abteilung (»Textual Scholarship by Means of Annotation«) führt Franck Cinato, »The Earliest Anonymous Exposition of Priscian: Two Manuscripts and Their Glosses« (S. 199–236), seine einschlägigen Studien zur frühmittelalterlichen Überlieferung und Glossierung der Grammatik Priscians mit einer Untersuchung zu den griechischen Einsprengseln in den kommentierten Abschriften Paris, Bibliothèque nationale de France, lat. 7505 und Reims, Bibliothèque municipale, 1094 fort, die er teils auf frühe Textstufen in Konstantinopel und im Vivarium Cassiodors, teils auf die gelehrte Tätigkeit im Canterbury Theodors und Hadrians zurückführen möchte.

Markus Schiegg, »Source Marks in Scholia: Evidence from an Early Medieval Gospel Manuscript« (S. 237–261), beschreibt diese verbreitete Praxis im älteren, aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts stammenden Teil der Handschrift Augsburg, Bistumsarchiv, 6: Sie sei in erster Linie dem Wunsch geschuldet, Autoritäten zu dokumentieren. Mit Martin Hellmann, »Tironische Tituli: Die Verwendung stenographischer Marginalien zur inhaltlichen Erschließung von Texten des frühen Mittelalters (S. 263–283), kommt einer der wenigen Spezialisten für die frühmittelalterliche stenographische Praxis zu Wort. Er konzentriert sich auf Köln, Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 212 (die älteste Handschrift dieser Bibliothek), den Reginensis latinus 1762 (die Cicero-Kompilation Hadoards von Corbie) und die in Fulda geschriebene Columella-Handschrift Mailand, Biblioteca Ambrosiana, L 85 sup: Hier weise der Typus der kurzschriftlichen Notate auf Oberitalien. Tironische Tituli dienten vorrangig als Orientierungshilfe und zur inhaltlichen Erschließung.

Andreas Nievergelt, »Glossen aus einem einzigen Buchstaben« (S. 285–304), beschreibt am Beispiel der Prudentius-Glossen in Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, ms. Ham. 542 Kürzungsverfahren und Eintragsformen althochdeutscher Glossen, wobei den Suspensionen mittels des Anfangsbuchstabens am ehesten eine mnemotechnische Funktion zukomme. Justin A. Stover, »Space as Paratext: Scribal Practice in the Medieval Edition of Ammianus Marcellinus« (S. 305–321), wertet mit Recht die Lücken in frühmittelalterlichen Abschriften des Ammianus Marcellinus (der Vaticanus latinus 1812 aus Fulda) oder der »Epitome de Caesaribus« als skrupulöse philologische Leistung, die Textausfälle oder unklare Stellen der Vorlagen kenntlich mache und zur Klärung überlieferungsgeschichtlicher Fragen beitragen könne.

Erik Kwakkel, »The Margin as Editorial Space: Upgrading Dioscorides alphabeticus in Eleventh-Century Monte Cassino« (S. 323–341), bringt die Verfahren textkritischer Anmerkungen in dem wohl Casinenser Codex Leiden, Universitätsbibliothek, VLQ 1 mit Arbeitstechniken im Umfeld des Constantinus Africanus in Verbindung. Chronologisch fällt Alberto Cevolini, »Making notae for Scholarly Retrieval: A Franciscan Case Study« (S. 343–367), aus dem Rahmen, der der Bedeutung der tabula des Robert Grosseteste und ihrer phantasievollen Zeichen für die Indexierung und Memorierung biblischer und theologischer Referenztexte nachgeht.

In der dritten Abteilung sind Beiträge zum dokumentarischen Wert annotierter Handschriften für private Studieninteressen oder die Unterrichtspraxis versammelt: Sinéad O’Sullivan, »Reading and the Lemma in Early Medieval Textual Culture« (S. 371–396), schließt aus dem mitunter verwirrend komplexen Layout kommentierter Exemplare Vergils, des Prudentius oder Martianus Capella auf einen sprunghaften, jedenfalls anstrengenden Lese- und Verarbeitungsprozess.

Silvia Ottaviano, »Reading between the Lines of Virgil’s Early Medieval Manuscripts« (S. 397–426), präsentiert Ergebnisse ihrer Pisaner Dissertation von 2014 und unterscheidet zwischen dem aufwendigeren Apparat der »commented edition« und dem basalen der »glossed edition«. Am Beispiel des Argumentum zur ersten Ekloge führt sie variable Kommentarstrategien vor und weist auf Fälle kollaborativer Glossierung hin. In zwei Appendices (S. 421–426) werden nach sieben Textzeugen das Argumentum und Scholien zur ersten Ekloge abgedruckt und eine textnahe Illumination zu Georgica 1, 244–246 in zwei karolingischen Vergil-Handschriften besprochen.

Anna Grotans, »Notker Labeo’s Translation/Commentaries: Changing Form and Function over Time« (S. 427–464), betont die Rolle Ekkeharts IV. von St. Gallen als Editor und Bearbeiter der Schriften seines Lehrers Notkers des Deutschen, deren handschriftliche Überlieferung in der Regel nicht mehr die Unterrichtssituation widerspiegele, sondern für »private readers« (S. 459) geeignet sei. Ad Van Els, »Transmitting Knowledge by Text and Illustration: The Case of MS Leiden, UB, VLO 15« (S. 465–499), rekonstruiert aus dem kodikologischen und inhaltlichen Befund der 14 unter dieser Signatur zusammengefassten Hefte (»personal notebooks«, S. 467) und weiterer Handschriften Ademars von Chabannes sein Unterrichtsprogramm und seine Lehrmethode in Angoulême und Limoges: Jenes habe über das Spektrum der Artes liberales hinaus auch die Medizin berücksichtigt, diese auf Illustrationen (etwa zu Prudentius’ »Psychomachie«, Hyginus und Fabeln) gesetzt.

Micol Long, »Monastic Practices of Shared Reading as Means of Learning« (S. 501–528), arbeitet den engen Zusammenhang zwischen einem produktiven, ja dialogisch interaktiven Unterrichtsmilieu und der Niederschrift vor allem exegetischer Werke heraus und stützt sich dabei auf drei passende Quellen: den Brief an Bischof Leander von Sevilla, den Gregor der Große seinen »Moralia« voranstellte, Cuthberts Brief über den Tod Bedas und den Brief Ercanberts von Fulda an seinen Lehrer Ruodulf, mit dem er seinen Kommentar zum Johannesevangelium eröffnet. Paulina Taraskin, »Reading Horace alongside Other Classics: MS British Library, Harley 2724« (S. 529–551), beschreibt das bekannte Phänomen der Verschränkung von Kommentaren und ermittelt als Quellen der Horaz-Glossen unter anderem Erklärungen zu Vergil (Servius), zur »Thebais« des Statius, zu Lucan und Martianus Capella (Remigius von Auxerre).

Die abschließende vierte Sektion (»Annotating Orthodox and Heterodox Knowledge«) beginnt mit einer zeitlich weitgespannten Untersuchung von Irene van Renswoude, »The Censor’s Rod: Textual Criticism, Judgment, and Canon Formation in Late Antiquity and the Early Middle Ages« (S. 555–595), in deren Zentrum jedoch die Kontroverse um den Umgang mit den Schriften des Origenes steht, die zwischen Hieronymus auf der einen, Vigilantius und vor allem Rufinus auf der anderen Seite ausgetragen wurde. Sie zeigt eine Funktionserweiterung des Zeichens obelus auf, die, ausgehend von der Markierung textkritisch auffälliger Stellen, schließlich auch die Kennzeichnung inhaltlich anstößiger einschließen kann, in jedem Fall aber die kritische Würdigung des Sachverhaltes voraussetzt. Hieronymus konnte hier bereits auf eine ältere Tradition zurückgreifen, die in Isidors »Etymologiae« (1, 21, 2f.) definitorisch zum Abschluss gebracht wird.

Luciana Cuppo, »Text and Context: The Annotations in MS Verona, Biblioteca Capitolare, XXII (20)« (S. 597–620), sieht Indizien für eine Zuweisung des bald nach 555 in Halbunziale geschriebenen Codex an das neapolitanische Skriptorium des Eugippius. Sie unterscheidet paläographisch und thematisch drei Schichten von Glossen (in Unziale, Jüngerer römischer Kursive und Tironischen Noten), die sie für Cassiodor bzw. sein Umfeld reklamiert und als Stellungnahmen in zeitgenössischen dogmatischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen wertet. Zu paläographischen Aspekten der Veroneser Handschrift ist inzwischen Tino Licht, »Halbunziale. Schriftkultur im Zeitalter der ersten lateinischen Minuskel (III.–IX. Jahrhundert)«, in: ders., Quellen und Untersuchungen zur Lateinischen Philologie des Mittelalters 20 (2018), S. 214–218, zu konsultieren, der die Datierung weiter präzisieren (vor 561) und die Halbunziale mit einem Ravennater Typ in Verbindung bringen möchte.

Janneke Raaijmakers, »Studying Jerome in a Carolingian Monastery« (S. 621–646), schließt aus der Verteilung und Typologie der Markierungen in der Handschrift Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Augiensis Perg. 105 (um 800 in Lorsch geschrieben, später auf der Reichenau), die innerhalb einer Sammlung von Briefen des Hieronymus seine Invektive »Adversus Vigilantium« tradiert, auf die spezifischen Interessen der Nutzer im 9. Jahrhundert: Neben der sorgfältigen Korrektur des Textes ist ihnen an methodischen und dogmatischen Aussagen (insbesondere zur Befürwortung der Reliquienverehrung), aber auch an prägnanten Formulierungen des Kirchenvaters gelegen.

Pierre Chambert-Protat, »Deux témoins d’Ambroise sur le Psaume 118 et leur ancêtre« (S. 647–672), leitet die beiden Textzeugen Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. XIV. 21 (Lyon, 9. Jh.) und Paris, Bibliothèque nationale de France, ms nal 1437 (Cluny, 10. Jh.) unabhängig voneinander von einer verlorenen Arbeitshandschrift des Florus von Lyon ab, während Klaus Zechiel-Eckes das Pariser Exemplar als direkte Abschrift des Florentiner wertete: Dieses enthalte eine ältere, ebenfalls auf Florus zurückgehende Schicht von Marginalien, die vom Kopisten aus der verlorenen Vorlage abgeschrieben und von Florus ergänzt wurde: diese Ergänzungen hätten im Parisinus jedoch keine Spuren hinterlassen.

Jesse Keskiaho, »The Annotation of Patristic Texts as Curatorial Activity? The Case of Marginalia to Augustine’s De Genesi ad litteram in Late Antiquity and the Middle Ages« (S. 673–704), untersucht Funktion und Intention der auf Eugippius zurückgehenden Kapitelüberschriften und eines Korpus von Anmerkungen, das vor dem frühen 8. Jahrhundert entstand und in mehreren Abschriften des Kommentars zur Genesis mitkopiert wurde (»β-annotations«, S. 685). Bei allen methodischen Problemen der Funktionsanalyse scheinen sie vor allem der Strukturierung des Textes und seiner Argumentation, mithin dem konstruktiven Lesen gedient zu haben und als autoritative Paratexte gedeutet worden zu sein. In einer Appendix (S. 700–704) werden die relevanten Textzeugen vom 6. bis zum Ende des 9. Jahrhunderts zusammengestellt.

Cinzia Grifoni, »Reading the Catholic Epistles: Glossing Practices in Early Medieval Wissembourg« (S. 705–742): Drei Weißenburger Handschriften aus der Mitte des 9. Jahrhunderts bieten kommentierte Abschriften der Katholischen Briefe. Bezugspunkt der beiden jüngeren ist Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 59 Weiss., wo Otfrid von Weißenburg als frühesten Teil seines »glossierte[n] Bibelwerk[s]« (Hans Butzmann, S. 711) eine Auswahl aus Bedas Kommentar in zwei Kolumnen beidseits des Textes der Briefe platzierte, ein wegweisendes Layout für die Bibelexegese. Otfrid schuf so »manuals or companions for the personal study of the Bible« (S. 725). Cod. Guelf. 47 Weiss. (mit einer Datumsangabe 860 innerhalb der Glossen) basiert auf Beda und Otfrid, platziert die Glossen indes in traditioneller Weise interlinear und marginal, während Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1239 Otfrids Konzeption zwar übernahm, aber sich auf lexikalisch-syntaktische Erläuterungen beschränkte und als »schoolbook at an elementary level« (S. 740) anzusprechen ist.

Patrizia Carmassi, »Theological Issues and Traces of Controversies in Manuscripts Transmitting Works of the Church Fathers« (S. 743–764), macht sich auf die Suche nach aktualisierenden Zugaben in Form von Illuminationen, Einleitungen und Marginalien in früh- und hochmittelalterlichen Abschriften zeitgebundener polemischer Schriften des Augustinus (»Contra Faustum Manichaeum«) oder Hieronymus (»Adversus Iovinianum«). Der voluminöse und facettenreiche Band schließt mit einer autobiographischen Wegbeschreibung seiner Studie zu den Handschriften aus Corbie von David Ganz (S. 767–771) und wird durch Indices der antiken und mittelalterlichen Autoren und Werke sowie der zitierten Handschriften beschlossen (S. 773–783).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Peter Orth, Rezension von/compte rendu de: Mariken Teeuwen, Irene van Renswoude (ed.), The Annotated Book in the Early Middle Ages. Practices of Reading and Writing, Turnhout (Brepols) 2017, XII–783 p., 41 b/w ill. (Utrecht Studies in Medieval Literacy, 38), ISBN 978-2-503-56948-2, EUR 140,00, in: Francia-Recensio 2019/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62828