Nichts deutete Anfang 1968 darauf hin, dass Frankreich revolutionäre Erschütterungen bevorstanden. Die schon seit Jahren in anderen westlichen Staaten gärenden Unruhen nahm das Land eher gelangweilt zur Kenntnis. Doch dann wendete sich das Blatt. Von Paris aus schlug eine studentische Protestbewegung in einen landesweiten Streik der Arbeitnehmer um und führte zu einer veritablen Staatskrise. Zahlreiche Publikationen haben die dramatischen Ereignisse des Mai 1968 aus Anlass des 50. Jahrestages neu verortet. Das hier anzuzeigende Buch sticht aus der Menge der Veröffentlichungen insofern heraus, als es sich um den Begleitband zu einer 2018 in den Archives nationales präsentierten Ausstellung handelt. Deren Ziel bestand gemäß dem Vorwort der Archivdirektorin Françoise Banat-Berger darin, »d’exposer les événements du printemps 1968 vus par le pouvoir et ses différentes composantes, depuis la présidence de la République jusqu’aux services de l’exécution et de la mise en œuvre des politiques publiques« (S. 4).
Da das Jubiläum mit der Öffnung der nichtklassifizierten Archivbestände der damaligen Zeit zusammenfiel, waren die Kuratorin Emmanuelle Giry, conservatrice du patrimoine in den Archives nationales, und der Mitherausgeber Philippe Artières, Forschungsdirektor am CNRS, in der glücklichen Lage, 300 bisher nicht veröffentlichte Dokumente in die Ausstellung einzubringen. Eingeordnet durch kurze Texte namhafter Historikerinnen und Historiker, dokumentieren die Schriftstücke, Fotos, Plakate und sonstigen Quellen die Vorgänge an der Zeitschiene entlang in drei Kapiteln: »Face aux événements«, »Réagir aux événements«, »Après les événements«.
Bei der gewiss nicht eben leichten Auswahl ließen sich Artières und Giry von der Absicht leiten, »de montrer comment le patrimoine archivistique de la nation peut expliquer les mécanismes d’un État en difficulté« (Françoise Banat-Berger, S. 4). Am Ende entschieden sie sich insbesondere für jene Exponate, »qui révèlent les hésitations, les représentations qui guident les interventions de l’État et ses pratiques« (Michelle Perrot, S. 7). Dass die Qualität des von den staatlichen Akteuren produzierten gigantischen »monument de papiers« (Philippe Artières, S. 15) höchst unterschiedlich ausfiel, gestehen sie offen ein. Ganz grundsätzlich überrascht neben luziden Schriftstücken einzelner Staatsbeamter und hellsichtigen Geheimdienstberichten die Blindheit des Staates »devant les changements qui traversent la société francaise et, au-delà, européenne, mondiale« (Michelle Perrot, S. 9).
Tiefe Einblicke in die Lagebeurteilung im Élysée bietet eine Aufzeichnung eines maître des réquetes im Conseil d’État, Bernard Ducamin, vom 18. Mai. Wenige Tage, nachdem die Franzosen millionenfach die Arbeit niedergelegt hatten, bezeichnete er die Situation in einer über Generaldirektor Tricot an Staatspräsident de Gaulle weitergeleiteten Note als »sombre« und sah »toutes les conditions objectives d’un drame« versammelt (S. 76). Ducamin empfahl eine Umbildung der Regierung Pompidou und die Vorbereitung eines Referendums, riet aber von der Anwendung des Artikels 16 zu diesem Zeitpunkt strikt ab (S. 78)1. Indem der Staatschef sich des zweiten Teils des Ratschlags nach Abbruch eines Staatsbesuchs in Rumänien annahm und am 24. Mai ein Referendum über ein weitreichendes »Partizipationsgesetz« ankündigte, trug er nicht unwesentlich zur Zuspitzung der Lage bei.
Auch das von Pompidou mit den Gewerkschaften und Unternehmern am 27. Mai ausgehandelte »Grenelle-Abkommen« sollte den Protest nicht verstummen lassen. In dieser höchst angespannten Situation setzte sich de Gaulle zwei Tage später zu den französischen Truppen nach Baden-Baden ab und kündigte nach der Rückkehr am 30. Mai in einer ausführlich dokumentierten Radiorede Neuwahlen zur Nationalversammlung an.
Zu Recht bezeichnet Emmanuelle Giry diese Entscheidung als »un tournant stratégique« (S. 132). Der Erdrutschsieg der Gaullisten bei den Parlamentswahlen im Juni verdeutlichte, dass die Mai-Krise die junge V. Republik nicht erschüttern konnte. Allerdings hatten sich die Gesellschaft wie auch der Staat so verändert, dass de Gaulles Regierungsstil als »un art du passé« gelten musste (S. 295). Nachdem eines der wichtigsten Bausteine seines Partizipationsprojekts, eine Verfassungsreform zur Bildung regionaler Zwischengewalten, am 27. April 1969 vom Volk abgelehnt worden war, zog der Staatschef die Konsequenz und trat zurück.
Angereichert durch eine Chronologie der wichtigsten Ereignisse und eine Liste der zentralen Akteure, bereichert der Band unser Wissen über »68« in Frankreich nicht unbeträchtlich. Ob er als »un essai d’histoire critique« gelesen werden kann, »en ce sens qu’il déconstruit l’art de gouverner au cours du second XXe siècle« (Philippe Artières, S. 19), sei dahingestellt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Ulrich Lappenküper, Rezension von/compte rendu de: Philippe Artières, Emmanuelle Giry (dir.), 68, les archives du pouvoir. Chroniques inédites d’un État face à la crise. Préface de Michelle Perrot, Paris (l’iconoclaste) 2018, 304 p., ISBN 979-10-95438-65-6, EUR 25,00, in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62876