War die Geschichte des Elsass lange Zeit nahezu exklusiv das Arbeitsgebiet französischer Regionalhistoriker, so ist seit den späten 2000er Jahren in der internationalen Forschung ein neues Interesse an der Region zu beobachten, wobei vor allem die Phase zwischen 1870/71 und 1945 im Fokus steht1. Hier knüpft Alison Carrol mit ihrer aus einer Dissertation an der Universität Exeter hervorgegangenen Studie zur Reintegration der Region in die Dritte Französische Republik nach dem Ersten Weltkrieg und dem daraus folgenden Wandel in der Zwischenkriegszeit an.
Anders als viele der regionalgeschichtlichen Arbeiten weist Carrols Blick über die Region hinaus: Anknüpfend an neuere Ansätze der transnationalen Geschichte interpretiert sie das Elsass als westeuropäisches borderland, dessen Geschichte maßgeblich durch seine Lage zwischen Deutschland und Frankreich geprägt wurde und nur aus einer transnationalen Perspektive verstanden werden kann. Statt die Reintegration als binären Prozess zwischen Pariser Zentrum und Elsässer Peripherie zu beschreiben, betont sie die heterogenen und widersprüchlichen Vorstellungen von der Zukunft der Region, die sowohl dort aber auch außerhalb existierten und die Reintegration zu einem »multicentered struggle« (S. 79) werden ließen. Dabei rückt Alison Carrol die Rolle der Grenze ins Zentrum ihrer Argumentation: Einerseits sei diese von den verschiedenen Akteuren durch unterschiedlichste Interaktionen konstruiert worden, andererseits habe sie auch als »driver of change« (S. 13) fungiert, der die Reintegration geprägt habe. Dabei legt sie sich nicht vorab auf eine Definition von »Grenze« fest, sondern benutzt den Begriff in ihrer Analyse sowohl für die Grenze im Sinne der Trennlinie zwischen Deutschland und Frankreich als auch für die Region als Ganzes.
Thematisch ist das mit etwas über 200 Textseiten relativ schmale Buch breit aufgestellt: Ausgehend von der Rückkehr der Region zu Frankreich decken die verschiedenen Kapitel die Transformation von Verwaltung, Politik, Wirtschaft, Elsässer Identität und Landschaft im Zeitraum von 1918 bis 1939 ab. Die einzelnen Kapitel sind dabei sehr konzise gehalten und auch für mit dem Thema weniger vertraute Leser zu empfehlen. Zudem überzeugt die Einbettung der Entwicklungen der Zwischenkriegszeit in längerfristige Prozesse etwa der Nationalstaatsbildung oder des Wandels der Funktion von Grenzen. Carrol arbeitet dabei mit einer beeindruckenden Fülle an Quellen, die weit über ihr Dissertationsthema hinausgehen. Dabei überrascht allerdings, dass zwar alle Kapitel diese breite Quellenbasis zitieren, Verweise auf die einschlägige Literatur hingegen teilweise fehlen2.
Insgesamt merkt man dem Buch an, dass es sich um die Erweiterung einer enger gefassten Dissertation zur Umwandlung der Elsässer SPD in die SFIO nach 1918 handelt. Anregenden Kapiteln etwa zur Transformation der Parteienlandschaft oder der Elsässer Landschaft als lieu de mémoire stehen solche gegenüber, die in der Auswahl der besprochenen Ereignisse und der Analyse vor allem für die zweite Hälfte der 1920er und die 1930er Jahre der gängigen Forschung weitgehend folgen und mit dem Thema vertrauten Lesern wenig Neues bieten. Auch die Tatsache, dass die innerfranzösische Perspektive im Vergleich zur ausführlichen und differenzierten Analyse lokaler Akteure meist eher schematisch bleibt, ist teilweise auf die Forschungslage, teilweise auf den selbst gewählten Fokus auf das »daily life« (S. 18) zurückzuführen.
Die starke Zuspitzung auf die Grenze als Prisma der Untersuchung erweist sich als Vor- und Nachteil für die Studie: So gelingt es Alison Carrol in Bezug auf verschiedene regionale Akteursgruppen überzeugend herauszuarbeiten, wie Identitäten durch das Leben an der Grenze, aber auch durch grenzüberschreitenden Austausch geprägt wurden, wie dabei ein komplexes »spectrum of loyalties« (S. 17) entstand und wie diese heterogenen Identitäten sowohl zueinander als auch mit Vorstellungen der Akteure von außerhalb – besonders von Politikern und Beamten aus Innerfrankreich – in Konflikt gerieten. Zudem kann sie zeigen, dass die stärker kontrollierte Grenze nach 1918 für die Bevölkerung zwar die Erfahrung von Differenz verstärkt in den Vordergrund treten ließ, grenzüberschreitende Kontakte aber nie ganz abrissen und die Grenze auch in der Zwischenkriegszeit »both limit and point of contact« (S. 111) war – allerdings wird der Hinweis auf diese Doppelstruktur der Grenze in nahezu jedem Kapitel wiederholt, was die Argumentation ein wenig redundant erscheinen lässt, zumal die Betonung der Grenze als entscheidendem Faktor für die Transformationen der Zwischenkriegszeit nicht überall zu überzeugen vermag.
Der enge analytische Fokus führt zudem dazu, dass andere Erklärungsansätze in den Hintergrund treten: So erscheint etwa der Erste Weltkrieg für ein Buch über die Zwischenkriegszeit über weite Strecken seltsam abwesend. Es ist beispielsweise schwer nachzuvollziehen, dass Carrol bei ihrer Analyse der französischen Politik der Loyalitätskontrolle und der zugrundeliegenden ethnisierten Vorstellung nationaler Zugehörigkeit nicht auf entsprechende Praktiken zur Identifikation von enemy aliens aus der Kriegszeit und die damit einhergehende Radikalisierung ethnischer Nationsvorstellungen eingeht3. Insgesamt wäre eine stärkere Bezugnahme auf neuere Ansätze zur sortie de guerre an vielen Stellen wünschenswert gewesen4. So bekommt der Leser beziehungsweise die Leserin eine gut lesbare Geschichte der Zwischenkriegszeit im Elsass präsentiert, die Schwerpunkte und Desiderate der Elsassforschung reproduziert und den Forschungsstand eher punktuell erweitert.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sebastian Petznick, Rezension von/compte rendu de: Alison Carrol, The Return of Alsace to France. 1918–1939, Oxford (Oxford University Press) 2018, XVI–230 p., 3 fig., 2 tabl., 1 map, ISBN 978-0-19-880391-1, GBP 60,00, in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62884