1933 – das Jahr der so genannten Machtergreifung bildete in der deutschen Bürgertumsforschung der 1980er und 1990er Jahre einen maßgeblichen Bezugspunkt. Die These eines deutschen »Sonderwegs« ist in diesem Zusammenhang längst revidiert worden. Zahlreiche differenzierte Studien haben unsere Kenntnisse über das Bürgertum, auch mit Blick auf 1933, bereichert. Was jedoch erstaunt, ist die Tatsache, dass die Zeit nach 1933 in der Bürgertumsforschung bisher kaum in den Blick genommen wurde: »Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus?« Dieser Leitfrage wurde auf einem Symposium des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts im Oktober 2016 nachgegangen, dessen Beiträge und Diskussionen nun als Tagungsband erschienen sind.

Wie Norbert Frei, der Herausgeber des in vier Teile untergliederten Buches, in seiner Einführung ausdrücklich hervorhebt, geht es nicht um eine Suche nach Residuen der Bürgerlichkeit im NS, die von vornherein einen Gegensatz zwischen Bürgertum und NS-Staat unterstellt, sondern um die Wahrnehmung und Wahrung konkreter Interessen des Bürgertums in der Diktatur.

Die Beiträge des ersten Panels beschäftigen sich mit dem »Bürger in der Krise«. Manfred Gailus diskutiert »Varianten von Führer-Erwartungen im protestantischen Bürgertum« (S. 29), die vor dem Hintergrund fundamentaler Krisenwahrnehmungen eine große Bedeutung erlangten. Vor allem am Beispiel der Universitätsstadt Göttingen untersucht Kerstin Thieler Positionen der Studenten- und Professorenschaft gegenüber dem Nationalsozialismus (NS) am Ende der Weimarer Republik.

Auf Basis von Tagebucheinträgen gebildeter deutscher Juden aus der Mittelklasse analysiert Mark Roseman Verfolgungs- und Ausgrenzungserfahrungen bürgerlicher Juden in Deutschland in den 1930er Jahren. In ihrer Wahrnehmung der Verfolger und der deutschen Gesellschaft spielten die Angst vor sozialem Statusverlust und Ausgrenzung aus der Nation eine zentrale Rolle. Die Haltung liberaler Parteigänger zur NS-Bewegung »[b]etween retreat and accomodation« steht im Mittelpunkt des Beitrages von Eric Kurlander. Vielen Liberalen sei die Einschätzung des NS als antibürgerlich gemein gewesen und dies führte abhängig von politischen und ideologischen Überzeugungen sowie vom sozialen Hintergrund des jeweiligen Liberalen zu Ablehnung oder Akzeptanz des Regimes.

Im zweiten Teil des Buches wird der »Bürger in Braun« und vor allem die Frage nach der Fortexistenz klassischer bürgerlicher Normen und Werte in der NS-Diktatur thematisiert. Mit diesem Fokus untersuchen Dietmar Süss Arbeit und Leistung, Cornelia Rauh Privateigentum, Franka Maubach die Rolle der Frau in der Gesellschaft vor dem Hintergrund der Positionen der bürgerlichen Frauenbewegung und Helen Roche schulische Erziehung. Zentral ist dabei, inwieweit in Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus an bürgerliche Vorstellungen angeknüpft und diese mit neuen Deutungsangeboten aufgeladen wurden und wie sich wiederum die Bürgerinnen und Bürger dazu verhielten. Tobias Freimüller weist in seinem Beitrag darauf hin, dass es im Feld der bereits vor 1933 etablierten Eugenik besondere Anknüpfungsmöglichkeiten zwischen bürgerlichen Experten und NS-Regime gab, die fehlende Akzeptanz des Mordes an Psychiatriepatienten in der Bevölkerung aber eine klare Grenzlinie markierte.

Es liegt auf der Hand, dass der »Bürger im Krieg« in seinen Wertorientierungen auf besondere Weise herausgefordert wurde. »Verlusterfahrungen und Beharrungskräfte« heißt dementsprechend der dritte Teil des Buches. Felix Römer stellt in seinem Beitrag zu Bürgerlichkeit, Militär und Gewaltkultur die These auf, dass gerade anhand des Wertesystems der Wehrmacht deutlich wird, wie Wertvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft im NS aufgenommen und graduell weiterentwickelt wurden. Daran anschließend argumentiert Moritz Föllmer, dass in der eklektischen Kultur des Nationalsozialismus auch die bürgerliche Hochkultur neben einem völkischen und populären Strang fortexistierte, gefördert und im Krieg Teil eines imperialen kulturellen Herrschaftsanspruchs wurde. Der Frage, wie bürgerlich der Widerstand gegen den NS war, geht Randall Hansen nach, dem es jedoch erkennbar schwer fällt, darauf eine überzeugende Antwort zu geben.

Benjamin Lahusen untersucht in seinem Beitrag Klassenjustiz und Heimatfront und hebt hervor, dass im nationalsozialistischen Strafrecht mit der Lehre vom nicht resozialisierbaren Tätertyp als »Schädling« der »Volksgemeinschaft« eine »Radikalisierung der alten Begrifflichkeiten« (S. 248) erfolgte. In der Justiz habe sich bis zum Ende des NS-Regimes eine »Bürgerlichkeit der Form« (und nicht des Inhalts) bewahrt.

Im vierten Teil – »Bürgertum danach« – werden ausgewählte bürgerliche Persönlichkeiten mit ihren Selbst- und Umdeutungen nach 1945 vorgestellt: Albert Vögler als einer der einflussreichsten Industriellen der NS-Zeit von Tim Schanetzky, Inge Aicher-Scholl, die weniger bekannte Schwester von Sophie und Hans Scholl, von Christine Friederich, der Staatsrechtler und Sozialdemokrat Carlo Schmid von Kristina Meyer, der Pfarrer Martin Niemöller von Benjamin Ziemann und schließlich der Journalist Giselher Wirsing von Maik Tändler.

Resümierend kann festgehalten werden, dass dieser ambitionierte Tagungsband auch aufgrund der Vielseitigkeit seiner Beiträge sehr überzeugt. Ein großer Vorzug besteht darin, dass die Kommentare und kontroversen Diskussionen zu den einzelnen Panels ebenfalls dokumentiert werden. Die Leserin bzw. der Leser darf sich daher auf eine interessante und anregende Lektüre freuen.

Unterbelichtet bleiben für die Bürgertumsforschung fast schon klassische konzeptionelle Probleme, die weniger in den Beiträgen, sondern eher in den Diskussionen thematisiert werden. Norbert Frei fragt zwar in der Einleitung, ob man denn die junge Sekretärin, den wirtschaftlich angeschlagenen kleinen Familienunternehmer, den kleinstädtischen Rentier und die großstädtische Professorenfamilie vergleichen könne. Seine Antwort ist jedoch erstaunlich lakonisch: »[E]s waren im Zweifel bürgerliche Hoffnungen und Erwartungen, die diese Menschen an das neue Regime herantrugen« (S. 10). Letztlich sind es dann wieder einmal die wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Kerngruppen, auf die sich die Beiträge des Buches konzentrieren.

In ihrem Kommentar weist Ute Daniel darauf hin, dass das Konzept der Tagung dazu zwinge, »gewissermaßen präsentistisch zu argumentieren und das Konzept der Bürgerlichkeit auf der einen Seite und das Dritte Reich auf der anderen so zu betrachten, als seien sie tatsächlich in der Retrospektive als fixe Größen zu vermessen« (S. 262f.). Vor einigen Jahren hat Manfred Hettling dafür argumentiert, Bürgerlichkeit weder als spezifischen kulturellen Habitus noch als enges Korsett von Normen und Werten zu verstehen, sondern als ein kulturelles Orientierungssystem, das es dem einzelnen Bürger erlaube, auch gegensätzliche Wertorientierungen miteinander zu verbinden. Durch Ideologien wie den Nationalsozialismus wird ein solches Modell zwar prinzipiell herausgefordert, doch im Sammelband wird immer wieder zu Recht hervorgehoben, dass auch die NS-Ideologie nicht als geschlossenes System, sondern hinsichtlich ihrer Widersprüchlich- und Vielseitigkeit zu untersuchen ist.

Es ist also danach zu fragen, welche Anschlussfähigkeit und neue Kombinatorik von Wertorientierungen in den konkreten Lebenssituationen der Bürger am Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus möglich war und dabei zu berücksichtigen, dass sich praktizierte Bürgerlichkeit in Grenzen bewegte, »die nicht selten von Parteigenossen bestimmt wurden«, wie Norbert Frei betont (S. 94). Darauf geben zahlreiche Beiträge des Bandes, in denen oftmals einzelne bürgerliche Biografien mit ihren Erfahrungen in den Mittelpunkt gestellt werden, aufschlussreiche Antworten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Daniel Watermann, Rezension von/compte rendu de: Norbert Frei (Hg.), Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus?, Göttingen (Wallstein) 2018, 439 S. (Vorträge und Kolloquien, 22), ISBN 978-3-8353-3088-7, EUR 20,00, in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62890