Am 1. Juni 1968 mobilisierten gaullistische Aktionskomitees und Jugendorganisationen zwischen 5000 und 6000 Personen, um in Straßburg gegen die Studierenden zu demonstrieren, die wenige Wochen zuvor die Universität Straßburg für autonom erklärt hatten. Zündfunken des spät erwachten Aktivismus der Regierungspartei und ihrer Anhänger war ein Graffito: In der Nacht auf den 21. Mai hatten Unbekannte in roter Farbe das Wort »RÉVOLUTION« auf das Gefallenendenkmal auf der Place de la République gemalt. Der Mobilisierungserfolg der elsässischen Gaullisten war bei weitem nicht so groß wie in Lyon (100 000) und Toulouse (30 000), und doch war die Demonstration ein Befreiungsschlag. Überrascht von den »Ereignissen« des Mai 1968, waren Anhänger de Gaulles lange diskret geblieben; nun versuchten sie, den öffentlichen Raum zurückzuerobern.

Die Gaullisten mobilisierten in ganz Frankreich im Vorfeld der für Ende Juni anberaumten Wahlen zur Nationalversammlung; das war nicht ungewöhnlich. Unerwartet war, dass am 1. Juni 1968 in Straßburg einige hundert Demonstranten das Palais universitaire angriffen, sich mit den dort verbarrikadierten Studierenden Scharmützel lieferten, in das Gebäude einzudringen und die rote Fahne auf dem Dach zu entfernen versuchten.

Der »Mai 1968 en Alsace« war jedoch nicht nur aufgrund einzelner Ereignisse anders. Ein genauer Blick lohnt, um aus der Provinz heraus die Meistererzählung von der »Pariser« Studentenbewegung aufzubrechen. »1968« in Straßburg verdient es aus eigenem Recht erzählt zu werden, wie der vorliegende Band belegt, der die gleichnamige Ausstellung der Bibliothèque nationale et universitaire (BNU) dokumentiert. Ausstellung und Katalog wurden von Geoffrey Girost und Benoît Wirrmann kuratiert; beteiligt waren neben Mitarbeitenden der BNU insbesondere Studierende der Haute école des Arts du Rhin (HEAR) und des Centre universitaire d’enseignement du journalisme (CUEJ). Die Kunststudierenden entwarfen Plakate zu aktuellen Fragen studentischen Lebens (Politisierung, Meinungsfreiheit, …), die im Umfeld der BNU auf panneaux électoraux plakatiert wurden, wie sie im Vorfeld von Wahlen zum Straßenbild französischer Städte gehören; ein Plakat liegt dem Katalog bei. Die Studierenden der Journalistik steuerten aufschlussreiche Interviews mit Akteuren der Straßburger »Ereignisse« bei.

Der Band zeigt die gemeinsamen Leitmotive des Protests in ganz Frankreich ebenso plastisch wie deren »déclinaisons tout à fait spéciales« (S. 53) im Elsass, insbesondere das Vorspiel der Jahre 1966/1967, die Konflikte um die Zukunft der Universität, der Zusammenstoß von Studierenden und (meist jungen) Gaullisten sowie die Spezifika der Streikbewegung.

Die Vorgeschichte des Straßburger »68« zeichnet sich durch den starken Einfluss kirchlicher Gruppen in der frühen Phase, dann vor allem des Situationismus und des bis 1966 in Straßburg lehrenden Henri Lefebvre aus. Von hier gingen wichtige Impulse für die Debatte über die Universitätskrise aus, hier wurde mit neuen (oder wiederentdeckten) Formen der politischen Öffentlichkeit und der Organisation experimentiert, einschließlich Ideen von direkter Demokratie und Selbstverwaltung (autogestion) der Universitäten.

Zum Skandal kam es bereits 1966: Revolutionäre und gegenüber der studentischen Gewerkschaftsbewegung kritische Studierende übernahmen im Mai – in einer Wahl ohne Gegenkandidaten – die brachliegende Association fédérative générale des étudiants de Strasbourg (AFGES), die lokale Gliederung der Union nationale des étudiants de France (UNEF). Zusammen mit den Situationisten entwarfen und verbreiteten sie im November 1966 das richtungweisende Pamphlet »De la misère en milieu étudiant considérée sous ses aspects économique, politique, psychologique, sexuel et notamment intellectuel et de quelques moyens pour y remédier« (Strasbourg 1966). Der Text fand in zahlreichen Neu- und Teilauflagen, Bearbeitungen und Übersetzungen schnell Verbreitung in Frankreich und Europa und provozierte einen Skandal über Straßburg hinaus.

Die studentische Mobilisierung der ersten Jahreshälfte 1968 verlief dann eher in den Bahnen des aus Paris Bekannten – wenn auch im Vergleich friedfertiger. Die Ereignisse waren nie nur eine Imitation des Pariser »Mai«: Der Katalog macht die Zirkulation von Ideen, Themen und Akteuren zwischen Straßburg, Paris und anderen französischen Städten sowie – bedingt durch die Lage am Rhein – mit Deutschland augenfällig.

Das Echo des Skandals von 1966 war zwei Jahre später noch vernehmbar: Im Kontext der Pariser Barrikadenkämpfe vom 10./11. Mai erklärten Studierende die Autonomie der Universität Straßburg, wobei sie sich der Sympathien eines Teils des Lehrkörpers sicher sein konnten. Viele linke studentische Gruppen lehnten zwar den Situationismus als unzureichend und apolitisch ab. Doch Krise und Reformbedarf der Universität, die Forderung nach paritätisch besetzten Institutionen, die Prekarität im studentischen Milieu und eine libertäre Züge tragende Sehnsucht nach Neubegründung aller sozialen Beziehungen blieben bestimmende Themen.

Der elsässische printemps social (v. a. in Mühlhausen und im elsässischen Kalibecken) war im Vergleich spät sowie lokal und auf einzelne Branchen begrenzt. Die Aufrufe zum Generalstreik hatten nicht verfangen; die regionalen Gewerkschaftszentralen verhielten sich abwartend. Initiativen gab es vor allem auf betrieblicher Ebene – wobei es auf den Generalversammlungen nicht immer Mehrheiten für einen Streik gab. Im Gegenzug nutzten die Arbeiter und Arbeiterinnen alternative Aktionsformen, insbesondere Demonstrationen und Fabrikbesetzungen während der Verhandlungen mit ihren Geschäftsführern.

Die begrenzte Mobilisierungskraft der Gewerkschaften zeigt deutlich, dass in zeitlicher Verdichtung aufbrechende Krisen und Konflikte nicht als – auch heute oft beschworene – Konvergenz sozialer und politischer Kämpfe (convergence des luttes) missverstanden werden sollten. Die Arbeiterbewegung hatte ihre eigenen Themen, Ziele, Aktionsformen und Konjunkturen. So waren die Arbeitskämpfe von 1967 und dann wieder in den 1970er Jahren im Elsass bedeutender als die Streiks vom Mai ’68. In ihnen wurden Konflikte um Deindustrialisierung, Gehalt, Arbeitsbedingungen und Arbeitssicherheit ausgetragen; auch das Thema autogestion tauchte wieder auf, nun auf Unternehmen bezogen.

Der Katalog räumt diesen langfristigen Einbettungen von »1968« dankenswerterweise viel Raum ein. Eine weitere Langzeitwirkung war neben der (Re-)Politisierung der Studierenden die Entwicklung eigener Medien als Experimentierraum für junge Journalisten (»Klapperstein«, »Uss’m Follik«, »K68«). Auch die Kontinuität der Problemlagen, die bald von den Neuen Sozialen Bewegungen thematisiert würden, wird klar herausgearbeitet: Infragestellung von Hierarchien in Staat, Armee und Wirtschaft, Ökologie, Antiatomkraftbewegung (Fessenheim!), Wohnungspolitik und Gestaltung der Stadt als Lebensraum.

Die Spezifika der politischen Landschaft im Elsass taten ein Übriges für die geringe Resonanz von »1968«. Die Bevölkerung reagierte mehrheitlich ablehnend oder doch zumindest indifferent gegenüber den studentischen Forderungen. Die Positionen und Haltungen von Gegnern und Indifferenten werden im Katalog eher referiert, plastisch werden nur die Positionen der aufbegehrenden Studierenden. Nur in einem Interview kommen zwei (damals) junge Gaullisten zu Wort, die an der Demonstration vom 1. Juni beteiligt waren. Um die Perspektiven zu variieren, lohnt es sich deshalb, den Band parallel zu lesen mit dem gleichermaßen interessanten Katalog der Pariser Ausstellung der Archives nationales über »68, les archives du pouvoir«1.

Viel zu selten wird die Arbeit der Gestaltenden von Ausstellungen und Katalogen gewürdigt. Der Katalog ist typografisch wie auch grafisch äußerst gelungen. Das Spiel mit den Farben Schwarz, Rot und Weiß, die farbliche und typografische Unterscheidung verschiedener Textarten (ohne, dass die Seiten unruhig wirkten) sowie die gezielte und sparsame Verwendung einer plakattypischen Schreibschrift als Auszeichnungsschrift wirken durchdacht. Die Agentur Terrains vagues hat hervorragende Arbeit geleistet. Die Dokumente, die vor allem aus Beständen der BNU sowie der Archive der Stadt Straßburg und des Departements Haut-Rhin stammen, sind in sehr guter Qualität abgedruckt; Plakate, Flugblätter, Karikaturen, Cartoons und Zeitungsausschnitte sind durchweg gut lesbar.

Den Leserinnen und Lesern zeigt sich in diesem Katalog ein »1968«, das irgendwie dem ähnelt, das wir aus Paris, Berlin oder Frankfurt a. M. kennen, irgendwie aber auch anders war. Es ist nicht nur diese Wiederentdeckung regionaler Spezifika, die den Katalog unbedingt lesenswert macht. Im Zusammenspiel der vielfältigen Text- und Bildquellen mit den erläuternden Texten und Interviews erschließt sich auch eine differenzierte Sicht auf die politischen und sozialen Konflikte der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, deren fundamentale Problemlagen uns wie ein Basso continuo bis heute begleiten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jürgen Finger, Rezension von/compte rendu de: Geoffrey Girost, Benoît Wirrmann (dir.), Mai 68 en Alsace. Catalogue de l’exposition présentée à la Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg du 28 avril au 7 octobre 2018, Strasbourg (BNU Éditions) 2018, 192 p., 250 ill., ISBN 978-2-85923-077-7, EUR 24,00, in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62894