Im 19. Jahrhundert war Prostitution in weiten Teilen Europas reglementiert. Die Bordelle wurden staatlich konzessioniert, die Frauen polizeilich registriert, gynäkologisch überwacht und Zwangsbehandlungen unterworfen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde diese Reglementierung der Prostitution abgeschafft.
Wie kam es zu dieser Abschaffung? Welche Gründe sprachen für ein Ende dieser Art der Prostitutionskontrolle? Und inwiefern verlief die Diskussion in unterschiedlichen Ländern parallel oder eben gerade nicht? Diese Fragen stehen im Zentrum von Malte Königs Habilitationsschrift (Univ. des Saarlandes), in der es um die Gesetzesentwicklung in Deutschland, Frankreich und Italien geht.
Zugrunde liegen der Untersuchung Parlamentsakten, Gesetzeskommentare, medizinische Veröffentlichungen, Berichte der beteiligten Akteure und Akteurinnen sowie zeitgenössische Presse. Es geht König nicht um die reale Situation, sondern um den parlamentarischen Diskurs im Zuge der Abschaffungsdebatte.
Im ersten Hauptkapitel widmet sich der Autor der Vorgeschichte und dem Verlauf der Gesetzesinitiativen. Sein zentrales Ergebnis: die Gesetze wurden mit 20 bzw. 30 Jahren Verzögerung verabschiedet. In Deutschland beendete man die staatliche Lizensierung von Bordellen 1927 mit dem »Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten«. In Frankreich wurde die Debatte zur selben Zeit geführt, kam jedoch unter dem Vichy-Regime zum Erliegen. Die Schließung der maisons closes erfolgte schließlich 1946, die Überwachung von Prostituierten wurde erst 1960 beendet. Bemerkenswert ist, dass die Diskussion in Italien überhaupt erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann. Und während sich das Ende der case di tolleranza durch eine 1948 eingebrachte Gesetzesvorlage zunächst schnell anzubahnen schien, sollte es bis zur Verabschiedung des Gesetzes bis 1958 dauern.
Um die Parlamentsdebatten, die zu diesen Entscheidungen geführt haben, genauer zu verstehen, beleuchtet König im zweiten Hauptkapitel vier Zugänge zum Thema: 1) Gesundheitspolitik, 2) Sozialpolitik, 3) Geschlechterhierarchie und Emanzipation, sowie 4) Nationalgefühl, Identität und internationale Einflüsse.
War das System der reglementierten Prostitution lange vor allem mit der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten begründet worden, so traten spätestens mit dem Ersten Weltkrieg Zweifel auf, ob die medizinisch kontrollierten Bordelle die Männer wirklich vor Infektionen schützten oder sie sich dort gegenseitig infizierten. Während Gonorrhoe (Tripper) nicht selten als harmlos trivialisiert und als Männlichkeitsbeweis heroisiert wurde, galt Lues (Syphilis) als »Lustseuche« und Strafe Gottes für begangene Sünden. Solche Vorstellungen wurden trotz der Fortschritte in der Bakteriologie Anfang des 20. Jahrhunderts nur langsam getilgt. Gleichwohl sieht König in der medizinischen Forschung und der Entwicklung von Medikamenten wie Salvarsan und Penicillin den Hauptgrund für die Versachlichung der Diskussion und letztlich die Abschaffung der reglementierten Prostitution.
Die Kontrollmaßnahmen wurden aus dem ordnungspolizeilichen Machtbereich in das medizinische Feld verlagert. Aufklärungsmaterialien sollten über die Ansteckungsgefahren und die Verwendung von Kondomen informieren. Interessant erscheint hier, dass Italien sich kaum um die Aufklärung seiner Bevölkerung bemühte, sodass hier manche Mythen hartnäckig Bestand hatten, die Ängste bezüglich der Ansteckungsgefahr aber auch weniger ausgeprägt waren.
Ein etwas schiefes Bild entsteht dadurch, dass König seine Darstellung der gesundheitspolitischen Diskussion in Deutschland mit der Einführung des Gesetzes 1927 beendet. Dadurch erscheint die deutsche Politik als besonders fortschrittlich. Aber im Zweiten Weltkrieg griffen Wehrmacht und Behörden innerhalb und außerhalb des Reichs auf die alten Reglementierungspraxen zurück. In Kooperation mit der Sittenpolizei wurden Bordelle für Soldaten lizensiert, Frauen registriert und medizinisch überwacht1.
Generell nimmt König die Erfahrungen mit Prostitution im Ersten und Zweiten Weltkrieg nur dann in seine Darstellung auf, wenn sie von den Parlamentariern explizit erwähnt wurden. Damit entgeht ihm das einschneidende gesellschaftliche Erfahrungswissen zu Gewalt und Sexualität, das implizit in die parlamentarischen Debatten eingeflossen sein dürfte2. Überhaupt spielt die Frage nach Gewalt in seiner Darstellung kaum eine Rolle.
Der Abschnitt zur Sozialpolitik beginnt mit der im 19. Jahrhundert gängigen Vorstellung, Männer müssten ihre Triebe abbauen, nur so könnten die bürgerliche Ehe und damit das Gemeinwesen geschützt werden. Ursprünglich ein zentrales Motiv, um staatliche Bordelle zu lizensieren, fand der männliche Trieb in den Abschaffungsdebatten allerdings keine Erwähnung. König führt dies in Deutschland und Frankreich darauf zurück, dass es seit der Jahrhundertwende Kampagnen gab, die Männer aufforderten, enthaltsam zu leben statt ins Bordell zu gehen, denn Enthaltsamkeit sei keineswegs wie lange angenommen gesundheitsschädlich. Auch hier hätte es der Analyse gutgetan, wenn der Autor über die quellenimmanente Argumentation und das von ihm gewählte Korpus hinausgegangen wäre. Denn letztlich wirft seine Beobachtung eine entscheidende Frage auf: Welche gesellschaftlichen Vorstellungen und Praxen wurden geschützt, wenn man – insbesondere in den Nachkriegszeiten – über männliche Sexualität schwieg?
Im dritten Abschnitt beschreibt der Autor Prostitution als zentrales Thema des frauenpolitischen Ringens um Gleichberechtigung. Dass die Abschaffung der staatlichen Bordelle in Frankreich und Italien erst nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen wurde, sieht er in engem Zusammenhang mit der späten Einführung des Frauenwahlrechts in beiden Ländern. Wie schlecht es um die Gleichberechtigung stand, diskutiert König interessanterweise anhand der Tatsache, dass es Frauen lange nicht freistand, ein Richteramt zu bekleiden oder gleichberechtigt als Polizistinnen zu arbeiten. Was aber leider nur angedeutet wird, sind die frauenpolitischen Anliegen in Bezug auf geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, materielle Unabhängigkeit, weibliches Begehren und sexuelle Autonomie – alles Themen, die in den Nachkriegszeiten auf besondere Weise virulent waren3.
Malte König erschließt mit seinem internationalen, diachronen Vergleich eine Fülle spannenden Quellenmaterials und zeigt, auf welche Weise Prostitution auf den politischen Bühnen in Europa verhandelt wurde. Dabei versäumt er allerdings, sich mit den kommunikativen Regeln zu befassen, mit denen über sexuellen Tauschhandel verhandelt wurde. Wer war autorisiert, wann über was zu sprechen? Welche Aspekte wurden betont beziehungsweise beschwiegen? Und warum? Welche gesellschaftlichen Übereinkünfte kamen dabei zum Tragen? Und was lernen wir daraus über die gesellschaftlichen und staatlichen Funktionen von Prostitution? Sich diesen methodisch herausfordernden Fragen zu stellen, steht noch aus.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Regina Mühlhäuser, Rezension von/compte rendu de: Malte König, Der Staat als Zuhälter. Die Abschaffung der reglementierten Prostitution in Deutschland, Frankreich und Italien im 20. Jahrhundert, Berlin, Boston, MA (De Gruyter) 2016, VIII–488 S., 13 Abb. (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 131), ISBN 978-3-11-046021-6, EUR 119,95., in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62899