Den Krieg als »gewaltsamen Lehrer« zu bezeichnen, erscheint vordergründig problematisch. Aus der Geschichte Europas ist er aber nicht wegzudenken: Er hat es geformt. Die Vielfältigkeit der »Formen des Krieges«1 haben zu Deutungsmustern geführt, die dessen reguläre von seinen irregulären – und deswegen meist nicht »Krieg« genannten – Ausprägungen klar unterschied. So führte die Aufgabe, den Krieg politisch-rechtlich zu »hegen« oft zum Ergebnis, ihn semantisch aus der Politik wegzudefinieren und teils sogar aus der Geschichte auszublenden. Dieter Langewiesche, der sich seit über drei Jahrzehnten unter anderem mit der Geschichte von »Revolution und Krieg« sowie des Nationalismus beschäftigt hat2, brachte schon früher zum Ausdruck, dass die seit den 1990er Jahren diskutierten »neuen Kriege« im Grunde wenig wirklich Neues, dafür vielfache Déjà-vu-Erlebnisse bieten3.
Die Geschichte über »Europas Kriege in der Moderne« erweitert der Autor in doppelter Hinsicht: Neben den Staatenkriegen berücksichtigt er die »irregulären« Konflikte – und liefert gleichzeitig Begründungen, warum diese so oft getrennt vom vermeintlich »echten« Krieg betrachtet worden sind. Zweitens beleuchtet er die von Europa aus geführten »imperialen« Konflikte auch unter Berücksichtigung der »indigenen« Akteure – und erkennt in deren Geschichte(n) vielfache Parallelen zu europäischen Entwicklungen. Vordergründig ganz altmodisch bezeichnet Langewiesche den gesamten Themenkomplex als »Krieg«. Diese Wortwahl ist indessen geeignet, die vielfachen Verzahnungen zwischen den vielen Formen kollektiver Gewalt aufzuzeigen und gleichzeitig den semantischen Fallstricken bei der Wortwahl um »Krieg« oder »Nicht-Krieg«zu entgehen.
Das einführende erste Kapitel beginnt mit einer vermeintlichen Provokation: »Ohne Krieg kein Fortschritt«. Im Gefolge von Immanuel Kants Idee eines »ewigen Friedens« beleuchtet Langewiesche die verminten Implikationen einer nach europäischem Muster politisch und semantisch geordneten Friedensvorstellung. Auch Kant selbst hielt kriegerische Gewalt zur Selbstverteidigung für gerechtfertigt; und mehr noch: im europäischen Aufklärungsdenken wirkte ein europäisches Fortschrittsnarrativ, mit dem sich die Geschichte des Krieges in zweischneidiger Weise verknüpfte (S. 13–15): Nation und Nationalstaat, in Europa wie außerhalb, sind Ergebnisse kriegerischer Gewalt. So erwies sich der »Fortschritt als Kriegsgeschöpf« (so die Kapitelüberschrift S. 19). Auch im Gefolge von Revolutionen durchbrach Krieg »Fortschrittsblockaden«. Das zeigen Langewiesches zahlreiche Beispiele unerbittlich.
Der Autor schreibt nicht eine Geschichte, sondern ihrer vier. Erstens beschreibt er in Kapitel II die »klassischen« europäischen Staatenkriege. Und hier wie im Weiteren sind die Kapitelüberschriften als Thesen zu lesen, die im Text vielfach wiederholt und dicht belegt werden: »Europas Weltkriege gestalten die globale Ordnung (18.–20. Jahrhundert)« (S. 31). Von den »Weltkriegen des späten 18. Jahrhunderts« (S.47) über die napoleonischen Kriege als Versuch einer imperialen Ordnungsbildung und den nationalen Gegenbewegungen im 19. Jahrhundert zieht der Autor eine große Linie zum Zeitalter der Weltkriege und der »Nachkriegsordnung« bis zum Krieg gegen den Terror« (S. 145–148).
These und Überschrift von Kapitel III lauten: »Ohne Krieg keine erfolgreiche Revolution« (S. 149). In diesem zweiten Erzählbogen verschränkt er die klassischerweise getrennt betrachteten Innen- und Außenperspektiven miteinander. Der Betrachtungsrahmen spannt sich von den »nationalen Verfassungsrevolutionen« Englands im 17. Jahrhundert, den atlantischen Revolutionen in Nordamerika und Frankreich und den europäischen Revolutionen von 1848/1849 bis zum Ersten Weltkrieg und seinen Folgen. Die Revolutionen in Russland und Deutschland werden zusammen mit den Militärputschen, Verfassungs- und Kulturrevolutionen im Osmanischen Reich und der Türkei in eine gemeinsame Erzählung eingeordnet. Das Aufzeigen individueller Unterschiede wie ähnlicher Muster relativiert einerseits den Modellcharakter der »westlichen« Revolutionen des 18. Jahrhunderts, andererseits aber auch die vermeintlichen Sonderwege Deutschlands oder die angebliche Andersartigkeit der osmanisch-türkischen Geschichte. Hier wie insgesamt werden Gewalt und ihre Akteure nicht exotisiert, sondern kritisch betrachtet.
Der dritte Betrachtungsbogen in Kapitel IV gilt der These: »Ohne Krieg kein Nationalstaat und keine Nation in Europa«. Langewiesche begreift die Nation als Ressourcengemeinschaft, die ihren Angehörigen Identifikations- und Mitwirkungsrechte gewährt: vom Wahlrecht bis zur Wehrpflicht. Auch spannt sich die Betrachtung von den Nationalstaatsbildungen in Deutschland und in Italien zu derjenigen in Griechenland und in der »europäischen Türkei« in Südosteuropa. Angesichts der aufgezeigten Parallelen – im Wortsinn: Linien, die in die selbe Richtung weisen, ohne sich direkt zu berühren – könnte der Begriff der »Balkanisierung« auch umgedreht werden: Wie vordem in Mittel- und Westeuropa wurden ethnisch-religiöse Gemengelagen gewaltsam »entmischt« oder über eine ethno-nationale Integrationsideologie nach innen integriert. Dabei erwies sich die von allen Kriegsparteien angewandte entgrenzte Gewalt durch Krieg, Massaker und »ethnische Säuberungen« genauso als Mittel der Auseinandersetzung wie die mediale Barbarisierung des »Anderen«.
Der vierte Betrachtungsbogen Langewiesches in Kapitel V gilt der von Europa ausgehenden imperialen Gewalt: »Ohne Krieg kein Kolonialreich und keine Dekolonisation«. Das Kapitel beginnt mit der Idee vom »guten Despoten«, die im frühen 19. Jahrhundert die liberalen Vordenker John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville in ihren Schriften niederlegten. Das von ihnen paradigmatisch vertretene rationalistische Fortschrittsdenken bildete die Grundlage für militärische »Zivilisierungsmissionen« – von der französischen Einnahme Algiers 1830 bis zur Aufteilung Afrikas zu Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei beleuchtet der Autor auch die vorkolonialen Formen der Gewalt. Wie im vormodernen Europa versuchten auch afrikanische Mächte sich als staatliche Akteure zu etablieren – durch Herrschaftsverdichtung und Krieg. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erlagen diese versuchten Staatsbildungen der europäischen Kriegführung, die erst zu dieser Zeit ihre organisatorische und waffentechnische Überlegenheit zur Geltung brachte. Hinzu trat die eurozentrische politisch-rechtliche (De)Legitimationssemantik, welche die Kriege der »Einheimischen« zu bloßen »Aufständen« degradierte.
Die gerade dadurch entgrenzte Gewalt beleuchtet der Autor am Beispiel der deutschen Kriegführung in den »Schutzgebieten« Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika in den Jahren 1904–1908. Mit der Frage nach dem genozidalen Charakter der Gewalt beschreitet er ein »dicht vermintes Gebiet – politisch und ideologisch, auch wissenschafts- und geschichtspolitisch« (S. 372). Unter Mitberücksichtigung afrikanischer Gewaltakteure auf unterschiedlichen Seiten und angesichts der auch hier mitunter sehr unterschiedlichen Deutungsperspektiven erteilt Langewiesche aber einer normativ imprägnierten (Post-)Kolonialgeschichte eine Absage: »Wer für eine einzige Perspektive kämpft, beschränkt stets sein Blickfeld« (S. 382). Schließlich führte es wenig weiter, den unheilbringenden europäischen Macht-Wahrheitskonnex – nun postkolonial umgekehrt – einfach weiterzuerzählen, ohne ihn durch die Einnahme verschiedener »Sehepunkte« aufzubrechen.
Die eurozentrische Perspektive und die gegenwartsorientierte Überbetonung zeitnaher Ereignisse hat den Blick auf den Krieg verengt. Langewiesches Rückblick auf das europäische 19. Jahrhundert »mit dem Wissen des 20. Jahrhunderts« zeigt, dass Krieg in der europäischen Geschichte zur Ausformung von selbstbestimmten, meist demokratisch legitimierten Nationalstaaten geführt hat. Der Blick in die Geschichte der »Anderen« bietet ein Bild, das weniger fremd ist, als es frühere »orientalistische« Perspektiven glauben machen wollten. Und auch die Gewalt in den »neuen Kriegen« erscheint nun weniger als exotisch, sondern vielmehr als Kampf um konkurrierende Ordnungsvorstellungen – nicht unähnlich vormaliger europäischer Nationalstaatsbildungen und Revolutionen.
Dieser Blick ist erst möglich durch den vierfachen Bogen, in dem reguläre wie irreguläre Kriege, europäische Bürgerkriege und Revolutionen wie außereuropäische Imperialkriege und Dekolonisationskonflikte thematisch miteinander verflochten werden. In-Relation-setzen, ohne zu relativieren – diese Vorgehensweise impliziert eine Abkehr von Sonderwegsthesen; denn hinter letzteren steckt, wie Langewiesche eindrücklich zeigt, selbst ein normatives Fortschrittsdenken. Einen Sonderfall präsentiert Langewiesche dann doch: »Das heutige Europa ist erneut ein Laboratorium geworden, nun aber für neue Formen der supranationalen und suprastaatlichen Kooperation und Vereinigung« (S. 416).
In der Tat: Krieg zeigt sich als »gewaltsamer Lehrer« – in all seinen Formen, die der Tübinger Historiker eben nicht durch nuancierte Begrifflichkeit zum Verschwinden bringt, sondern historisch umfassend und theoriegeschichtlich versiert beleuchtet. Der Krieg ermöglichte für und in Europa eine Verknüpfung von Freiheitsvision und Aggressionspotenzial bis hin zu extremer »Vernichtungspolitik«. Diese Verzahnungen in einer Gesamtgeschichte aufzuzeigen und gleichzeitig die Einzelphänomene analytisch und erzählerisch getrennt darzustellen, macht das Werk zu einem Meilenstein, dem eine breite Leserschaft zu wünschen ist.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Martin Rink, Rezension von/compte rendu de: Dieter Langewiesche, Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne, München (C. H. Beck) 2019, 512 S. (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), ISBN 978-3-406-72708-5, EUR 32,00., in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62900