Die vorliegende Arbeit über den Wiener Schriftsteller und Kritiker Karl Kraus (1874–1936) reiht sich ein in eine ganze Reihe des Autors über die Wiener Moderne in der Periode 1860–19401. Das Buch ist chronologisch gegliedert, wobei jeder biografischen Periode unterschiedliche sachliche Problemstellungen zugeordnet sind, was sich aber nicht immer scharf abgrenzen lässt: die Zeit vor der »Fackel« bis 1898 (»Die demolirte Litteratur«, Bruch mit dem literarischen Milieu Wiens, mit der »Neuen Freien Presse«, mit dem Zionismus), die turbulente vielschichtige Vorkriegsperiode, der Erste Weltkrieg im Visier der »Fackel« und der »letzten Tage der Menschheit«, die Neuorientierung in der Republik, die letzten drei resignierten Lebensjahre angesichts der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, »Die Dritte Walpurgisnacht«.
Dieses Buch kommt also auf den ersten Blick als eine weitere Biografie Kraus‘ daher, etwa nach denen von Paul Schick, Edward Timms oder Friedrich Rothe2. Doch der Eindruck täuscht: Es geht Jacques Le Rider bei Kraus um einen enormen Eckstein des großen Projekts der Wiener Moderne in der langen Krisenperiode von Sedan über den Ersten Weltkrieg und der Revolutionen bis zum Untergang in Austrofaschismus und Anschluss; eine Moderne, die wesentlich geprägt ist von der Assimilation und Identitätskrise jüdischer Familien, jüdischer Intellektueller und Künstler, von wachsendem Antisemitismus, der genau diese Moderne bekämpft.
Karl Kraus erscheint hierbei als Dokumentarist, Akteur, Kritiker, Polemist und individueller, parteiloser Politiker zugleich. Er bekämpft leidenschaftlich eine Gesellschaft, deren leibliches kulturelles Produkt er ist, also mit ihren eigenen intellektuellen Waffen, und er scheut sich nicht davor, seine eigenen Positionen bis zum Gipfel des Selbstwiderspruchs, der Paradoxie voranzutreiben. Und diese von ihm bekämpfte Gesellschaft scheint ihn umgekehrt geradezu zu benötigen. Das gigantische Privatprojekt »Die Fackel« (1899–1936)3 und seine 700 öffentlichen Vorlesungen (1910–1936) sind schlicht ein großer gesellschaftlicher Erfolg, auch dann und gerade dadurch, dass Kraus sich ansonsten offen geradezu misanthropisch publikumsfeindlich verhält, was die »Journaille« und ihre Konsumenten betrifft.
Kraus ist Ankläger, Richter und Exekutor in einem, was Sprache angeht. Sprache stellt Gesellschaft her, aber Kraus geht auf die Gesellschaft nur insoweit ein, als er die individuellen, persönlichen Autoren sprachlicher Missgeburten verfolgt, und das über den ansonsten als perfide hypokrit verhassten Justizapparat hindurch. Er macht bestimmte Personen für die Gesellschaft verantwortlich und sucht sie buchstäblich persönlich auf. »Ich fordere Sie auf, zurückzutreten«, plakatiert er 1927 gegen den Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober nach dem von ihm zu verantwortenden Julimassaker4.
Le Rider glättet Kraus‘ Selbstwidersprüche und Paradoxien nicht zu einem homogenen Ganzen; im Gegenteil, er arbeitet sie reliefartig als zum Verständnis des Kritikers essentiell heraus. Das beginnt bereits mit einer Serie von Brüchen des Kritikers mit Freunden und Unterstützern, nach Maximilian Harden praktisch die gesamte Wiener Literaturszene samt der »Neuen Freien Presse«, was einen geradezu militanten Antizionismus im selben Zuge mit einschließt. Darauf folgt die vorderhand irritierende Allianz des Wiener Konservativen Kraus mit dem deutschen Sozialdemokraten Wilhelm Liebknecht gegen die Dreyfus-Kampagne. Da sehen beide merkwürdig stark orchestrierte, internationale politische Positionen scheinen am Werk, die sich selbst gegenseitig ausschließen5. In München, Berlin, Prag kann Kraus sukzessive erst größte Erfolge verbuchen, bevor er sich heftig mit den Literaturszenen zerstreitet, die ihm zunächst meist grandiose Empfänge bereitet haben. Pfemfert, Brod, Werfel, Kafka wenden sich von ihm ab. Mal spielt er mit dem Antisemitismus seines Publikums6, mal greift er selbst dazu, um dann wieder den »gemeinen« Antisemitismus in Gesellschaft und Politik harsch anzugreifen7.
Das ist harte Kost, für Kraus‘ Zeitgenossen ebenso wie für deren Nachfahren. Dabei ist er kein Theoretiker, sondern eben ein Mann der literarischen Praxis. Soziologische Beschreibung liegt ihm ebenso fern wie politische Selbstverortung. Das alles lässt sich nicht versöhnen oder auf einen Nenner bringen. Dieser Widerspruch – wie viele andere – ist Karl Kraus, wie Le Rider deutlich hervorhebt. Politisch ist der Kritiker nicht eindeutig in konventioneller Weise zu sichten. Radikaler Kulturkonservatismus, ohne Berührungsangst zur Moderne, Nähe zur Sozialdemokratie, auch zu Dollfuß (gegen Hitler intendiert), sarkastische Kritik des Justizapparats und dessen Instrumentalisierung zur unerbittlichen Verfolgung seiner Gegner und Feinde wechseln sich nicht nur ab, sondern werden synchron ausgespielt, auch wenn nach herkömmlichen Einordnungskriterien daraus kein Reim zu machen ist. Bei Kraus reimt sich derart gerade gar nichts. Wie ist ein Karl Kraus möglich?
Viele Intellektuelle beobachten Kraus fasziniert aus der Distanz, nachdem sie ihn gelesen und gehört haben, so Tucholsky, Adorno, Benjamin, Brecht, Canetti. Was an ihm fasziniert, ist seine Besessenheit der Sprache, verbunden mit einer nicht minder besessenen Kritik, ja Verfolgung und gnadenlose »Erledigung« (!) des Pressebetriebs beziehungsweise seiner Verantwortlichen. Die »Journaille« macht er persönlich für den gesellschaftlichen Nieder- und Untergang verantwortlich. Falsche Interpunktion und blutiger Bürgerkrieg gehen für ihn Hand in Hand, ohne dass er hierbei Kausalketten konstruieren wollte. Über Sprache werde nicht irgendeine »Information« irgendwie gleichgültig »vermittelt«, sondern Sprache ist die Sache, ist die Gesellschaft. Geht die Sprache vor die Hunde, tut es die Gesellschaft im selben Zuge auch, im selben Satz, buchstäblich mit dem letzten falsch gesetzten Komma8.
Das mag für den gemeinen gesunden Menschenverstand absurd erscheinen. Für die Sozialwissenschaften jedoch ist es das schon seit Langem nicht, sondern eher banal. Zunächst ist Kraus nicht der einzige, der Presse und Journalismus ins Visier nimmt. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg insistiert Max Weber darauf, dass deren Soziologie dringendstes Forschungsdesiderat des jungen Faches sei (noch vor Vereinssoziologie und Erforschung von Elitenreproduktion). In der Tat geht es hier um das erste große Massenmedium, das zugleich soziale Realität ist und soziale Realität schafft9, später gefolgt von Rundfunk, Fernsehen, heute elektronischen Massenmedien. Medien der Presse sind Sprache und Sinn. Deshalb sind sprachliche Fehler und Un-Sinn eine gesellschaftliche Katastrophe, und zwar unmittelbar. Zum anderen setzt sich weiterhin nach Marx die Gesellschaft nicht aus individuellen Personen zusammen, sondern aus gesellschaftlichen Verhältnissen10.
Luhmann sagt nichts anderes. Für ihn ist Gesellschaft die Gesamtheit der Verhältnisse zwischen psychischen Systemen (d. h. Menschen): Gesellschaft ist – vereinfacht gesagt – aus Kommunikation zusammengesetzt. Deren Medien sind insbesondere Sprache und Sinn. Sinn wiederum setzt Plausibilität und Evidenz voraus, hantiert mit ihnen. Evidenz ist das, was unmittelbar einleuchtet (»ce qui va sans dire«), und dessen Gegenteil absurd wäre11. Sie kann, wenn man nicht eine scholastische Gottgegebenheit annimmt, nur gesellschaftlich konstituiert sein.
Kraus setzt also, historisch-soziologisch ausgedrückt, genau an der Differenz zwischen dem Medium Sinn und dem Medium Sprache an. Diese produziert im Zuge der Printmedien als Massenmedien buchstäblich Un-Sinn. Es genügt ihm zuletzt, Sprachabschnitte der Presse oder der Justiz aneinander zu montieren, um unüberbietbare Realsatire zu produzieren. Das funktioniert aber nur, wenn es überhaupt noch so etwas wie Plausibilität und Evidenz als Voraussetzung für Sinn als gesellschaftliches Medium gibt. Ohne sie wird Sprache verfügbar, venal, sie prostituiert sich.
Man versteht hier Kraus‘ Affinität zum Theater, dann die fast pädagogische Absicht seiner Vorlesungen: Sprache schafft hier Gegengesellschaft in persönlicher Kommunikation unter physisch Anwesenden; allerdings im Vortrag einseitig indoktrinierend12. Man versteht aber auch den Unterschied seiner Positionen im Kontext des Ersten Weltkriegs und im Kontext des NS-Terrors. Noch 1900–1920 kann er sich einigermaßen auf ein Fundament von evidenten Sinnzusammenhängen verlassen. Seit 1930 bröckelt und verschwindet es. Genau deswegen fällt ihm zu Hitler nichts ein. Seine Unterstützung der Dollfußpolitik ist ein schierer Verzweiflungsakt. Gegen die Propagandamaschine des Nationalsozialismus, die sich zunehmend nicht nur der Presse, sondern auch massiv des Rundfunks und bereits versuchsweise des Fernsehens bedient und mediale Fakten produziert, ist das Projekt der individuellen, persönlichen »Fackel« machtlos, gehört einem vergangenen Zeitalter an.
Die neue Gesellschaft macht den Kritiker als Satiriker technisch arbeitslos. Realsatire ist satirisch an Absurdität nicht zu überbieten. Das führt den Kritiker zunächst zur Technik der Collage. Genau so verfährt Kraus während des Ersten Weltkriegs, und genau das macht seinen Erfolg aus. Dabei setzt er allerdings sachlich zweierlei voraus. Zum einen eine im Publikum irgendwie noch konstituierte Evidenz dessen, was sich von selbst versteht und die Folie der realsatirischen Absurdität abgibt; zum anderen eine Identifikation der falschen Sprache in ihrer Produktion ad hominem, was die persönliche Verfolgung und »Erledigung« insbesondere in den Druckmedien ermöglichen soll. Beides jedoch bricht angesichts des vorrollenden Nationalsozialismus weg. Sichere Evidenz, selbst Plausibilität gibt es immer weniger bis gar nicht mehr, und falsche Sprache reproduziert sich verantwortungslos selbst. Bert Brechts Vorwurf, Kraus habe enttäuschend das Handtuch geworfen anstatt literarisch-publizistisch zu kämpfen, geht am sachlichen Problem vorbei13.
Noch einmal: Gesellschaft ist aus historisch-soziologischer Sicht Kommunikation, und deren Medien sind Sinn und Sprache. So versteht sich nicht nur Karl Kraus‘ Besessenheit der Sprachkritik in der »Fackel«, sondern auch sein Engagement in seinen Vorlesungen. Gegen das Massenmedium Presse setzt er die sprachliche Interaktion unter Anwesenden als Gesellschaft. Das ist natürlich nur begrenzt möglich. Vor allem aber ist es gegen den Medienwust und Un-Sinn der faschistischen und nationalsozialistischen Massenbewegungen hilflos. »Zu Hitler fällt mir nichts ein« ist keine persönliche Schwäche, sondern signalisiert die Grenzen der Möglichkeiten der Sprachkritik gegenüber dem massiven Einsatz der NS-Massenmedien.
Kraus ist wie vermerkt keinem politischen Lager zuzuordnen. Er entzieht sich dem. Bestenfalls benutzt er eine politische Position zeitweise als Mittel seiner Kritik anderer politischer Lager, so bedient er sich der österreichischen Sozialdemokratie – über seinen Freund Friedrich Austerlitz, Chefredakteur der »Arbeiter-Zeitung« – gegen den populistischen Pressemagnaten Imre Békessy; wobei Kraus den Sozialdemokraten dann ihrerseits populistischen Sprachmissbrauch in ihrer Presse vorwirft und sich schließlich offen gegen sie wendet. Statt revolutionärer Volkskultur ergieße diese sich in reaktionärer, spießiger Unterhaltungskultur. In seiner eigenen paradoxalen kritischen Haltung sieht er keinen Widerspruch, er wirft den Sozialdemokraten im Gegenteil Miss- und Unverständnis seiner Kritik vor und dreht den Spieß um14:
Mein Widerspruch
Wo Leben sie der Lüge unterjochten,
war ich Revolutionär.
Wo gegen Natur sie auf Normen pochten,
war ich Revolutionär.
Mit lebendig Leidendem hab ich gelitten.
Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten,
war ich Reaktionär.
Wo Kunst sie mit ihrem Können beschmutzten,
war ich Reaktionär.
Und bin bis zum Ursprung zurückgeschritten.
Es ist das Verdienst Le Riders, diese Position des Kritikers Kraus nicht positivistisch zu glätten, sondern genau dessen Paradoxalität herauszuarbeiten und zu kontrastieren, auch und gerade in Bezug zu seinen faszinierten Bewunderern wie Tucholsky, Benjamin, Brecht, Adorno. Denn exakt von dieser Paradoxalität aus lässt sich produktiv weiterfragen, um zu verstehen, warum bzw. wie Kraus derart besessen von Sprachkritik ist und ununterbrochen die Presse angreift.
Hierin Benjamin15, aber gerade auch Adorno sehr nahe stehend16, arbeitet Le Rider gleichsam die Negative Dialektik der Kritik bei Kraus heraus, die Positivierungen scheut, sprachgewaltig und fragil ist, modern und anachronistisch zugleich17. Das macht das Faszinierende dieser Kritik aus, die als Feuer erleuchtet und verbrennt, und das gerade im Zeitalter der Elektrizität. Derart ist die Arbeit Le Riders nicht auf eine Biografie beschränkt, sondern zeigt über die Kritik Kraus‘ die historische Herausbildung einer neuen, eben unserer modernen Gesellschaft auf. Und es bleibt nicht aus, dass der Leser sich extrapolierend fragt, wie eine solche Kritik unter den Bedingungen der aktuellen elektronischen Massenmedien auszusehen hätte.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Fred E. Schrader, Rezension von/compte rendu de: Jacques Le Rider, Karl Kraus. Phare et brûlot de la modernité viennoise, Paris (Éditions du Seuil) 2018, 546 p., 8 p. de pl., ISBN 978-2-02-114197-9, EUR 26,00, in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62901