Bei der vorliegenden Aufsatzsammlung handelt es sich um den siebten Band der »Mitteilungen«, die von der deutsch-russischen Historikerkommission seit ihrer Einrichtung 1997 in zweisprachiger Fassung herausgegebenen werden. Die darin enthaltenen 16 Beiträge gingen aus zwei Jahreskolloquien der Kommission hervor, die im Juli 2013 in Moskau (»Der Erste Weltkrieg. Ursachen und Folgen«) und im Oktober 2014 in Berlin (»Vom Krieg zur Revolution. Die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland und Russland von 1914 bis 1919«) stattfanden.

Das Spektrum der in den Aufsätzen behandelten Fragen ist dabei in mehrfacher Hinsicht breit angelegt: geografisch geht es über die Grenzen Deutschlands und Russlands hinaus und umfasst einzelne Fallstudien zu Großbritannien, Frankreich, Italien, dem Osmanischen Reich und der Habsburgermonarchie; thematisch variieren die Beiträge zwischen Diplomatie-, Politik-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte; chronologisch führen einige Studien bis in das späte 19. Jahrhundert zurück, während andere bis in die 1920er Jahre hineinreichen. Manche Beiträge beschränken sich vornehmlich darauf, den bereits etablierten Stand zu einschlägigen Fragen der Weltkriegsforschung zu referieren und können dem mit dem Thema bewanderten Leser damit gewiss nur wenig neue Erkenntnisse liefern. An mehreren Stellen erweist sich der Band jedoch auch für aktuell diskutierte Fragen als gewinnbringende Lektüre.

Dazu zählen etwa die beiden ersten Aufsätze von Andreas Wirsching und Manfred Hildermeier, die eine kritische Auseinandersetzung mit den in der jüngeren Debatte vorgetragenen Thesen zur deutschen und russischen Verantwortung für den Kriegsausbruch bieten. Wirsching argumentiert überzeugend, dass entgegen der von Christopher Clark vertretenen Exkulpierung des deutschen Kaiserreichs dennoch von einer besonderen deutschen Kriegsverantwortung gesprochen werden müsse. Das in der Argumentation von Clark vernachlässigte deutsche Militär habe nämlich gegenüber der zivilen Regierung über ein weitaus größeres Maß an Autonomie und damit über einen gewichtigeren politischen Einfluss verfügt als dies etwa in Großbritannien oder Frankreich der Fall gewesen sei. Unter dieser Bedingung konnte eine offensive militärische Logik, die bereits im Schlieffenplan ihren Ausdruck gefunden hatte, während der Julikrise zu einem ausschlaggebenden Faktor für die Kriegsbereitschaft Deutschlands werden.

Ebenso plausibel argumentiert Manfred Hildermeier in seinem Beitrag gegen die These Sean McMeekins, die Russland – aufgrund eines gegen Deutschland und Österreich gerichteten panslawistischen Expansionsstrebens auf dem Balkan – die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch zuschreibt. Zum einen weist Hildermeier darauf hin, dass die russische Regierung bis kurz vor Kriegsbeginn einen engen diplomatischen Austausch mit den Mittelmächten gepflegt hatte. Das von George Kennan als »Fateful Alliance« betitelte Militärbündnis, das das Zarenreich 1893 mit Frankreich geschlossen hatte, könne also keineswegs als Ausgangspunkt für eine lineare und zwangsläufige Entwicklung in den Weltkrieg verstanden werden. Zum anderen sei es 1914 unter den russischen Entscheidungsträgern gerade aus der Erfahrung des militärischen Desasters im Krieg gegen Japan 1904/1905 Konsens gewesen, dass das Zarenreich auf absehbare Zeit nicht imstande sei, sich auf einen europäischen Konflikt einzulassen. Deshalb habe Russland allein schon aus Eigeninteresse bis zum Schluss versucht, eine kriegerische Zuspitzung der Julikrise abzuwenden.

Dies bedeutet freilich nicht, dass der Krieg nicht auch große Erwartungen in der russischen Öffentlichkeit geweckt hätte. Der Beitrag Vladimir Buldakovs etwa beschreibt die von führenden nationalliberalen Wissenschaftlern und Intellektuellen vorgebrachte Hoffnung auf eine »wirtschaftliche Wiedergeburt Russlands«, die durch die mit dem Krieg einhergehende Emanzipation von Russlands Handel und Industrie von ausländischem Einfluss eingeleitet werden sollte. Die ambitionierten Pläne Ivan Ozerovs, Vladimir Vernadskijs und Ėrnest Buchgejms zur »Befreiung der russischen Wirtschaft« und der dazu notwendigen Mobilisierung von Wissenschaftlern und Ingenieuren, die bis zur später von Lenin populär gemachten Idee einer flächendeckenden Elektrifizierung des Landes reichten, stießen jedoch bald auf die Kriegsrealität von Misswirtschaft und Versorgungsengpässen.

Ebenso ambivalente und letztlich kontraproduktive Ergebnisse zeitigte die russische Politik der Diskriminierung der deutschen Minderheit, die Evgenij Sergeev in seinem Aufsatz untersucht. Kurz nach der russischen Kriegserklärung an das Kaiserreich hatten staatlich orchestrierte antideutsche Hetzkampagnen in Russland begonnen, die binnen kurzer Zeit in der Beschlagnahmung deutschsprachiger Zeitschriften und Bücher, dem Aufführungsverbot deutscher Musikstücke und der Schließung deutscher Gymnasien mündete. Die Ende 1915 erlassenen Liquidationsgesetze legalisierten die Enteignung deutscher Kolonisten und deren Deportation nach Sibirien und Mittelasien.

Hinter diesen Maßnahmen standen laut Sergeev einerseits handfeste wirtschaftliche Interessen der russischen Grundbesitzer und Industriellen, die im Zuge der grassierenden Germanophobie die Gelegenheit ergriffen, potente Konkurrenten auszuschalten. Das deutsche Feindbild und die Rede von der fünften Kolonne dienten andererseits dazu, von eigenen Fehlern bei militärischen Niederlagen und innerer Misswirtschaft abzulenken. Schließlich, argumentiert Sergeev, habe sich das Zarenreich mit seiner antideutschen Politik wichtiger menschlicher und wirtschaftlicher Ressourcen beraubt, die politische und soziale Destabilisierung Russland beschleunigt und sich damit selbst signifikanten Schaden zugefügt.

Nach der Lektüre von Sergeevs Aufsatz hätte man gern noch weitere Beiträge gelesen, die sich explizit mit Fragen der deutsch-russischen Beziehungen während des Ersten Weltkriegs befassen. Inwieweit wurde etwa die Russophobie in Deutschland politisch instrumentalisiert? Mit welchen Mitteln versuchte Deutschland die Minderheiten des Zarenreichs gegen Russland zu mobilisieren? Leider fielen diese und andere interessante Fragestellungen dem breiten Themenspektrum des Sammelbandes zum Opfer. Nichtsdestotrotz bieten die Beiträge der Aufsatzsammlung viele Anregungen für weiterführende Forschungen in diesem Bereich.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Manuel Geist, Rezension von/compte rendu de: Horst Möller, Aleksandr O. Čubar’jan (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Deutschland und Russland im europäischen Kontext, Berlin, Boston, MA (De Gruyter) 2017, VIII–176; VIII–182 S., 4 Abb. (Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, 7), ISBN 978-3-11-048223-2, EUR 59,95., in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62904