Der 2007 verstorbene René Rémond war einer der bekanntesten französischen Historiker nach dem Zweiten Weltkrieg. Seine aus dem 19. Jahrhundert hergeleitete Einteilung der »Rechten« in Frankreich in (reaktionäre) Legitimisten, (liberale) Orléanisten und (autoritäre) Bonapartisten wird bis heute immer wieder zitiert, wenngleich die Forschung sie mittlerweile vor allem im Hinblick auf ihre Gültigkeit für das 20. Jahrhundert durchaus relativiert hat. Einem größeren Publikum war Rémond zudem zu Lebzeiten bekannt, weil er über Jahrzehnte im französischen Fernsehen die Ergebnisse von Parlaments- und Präsidentschaftswahlen kommentierte. Selbst in Deutschland lernten ihn historisch Interessierte weit über die Geschichtswissenschaft hinaus als Autor jener beiden Teilbände der von Jean Favier herausgegebenen »Geschichte Frankreichs« kennen, die dem 20. Jahrhundert gewidmet waren. Wie auch die übrigen Bände der Reihe wurde Rémonds souveräne Synthese Mitte der 1990er-Jahre ins Deutsche übersetzt1.

Charles Mercier hat Rémond aus Anlass von dessen 100. Geburtstag eine Biografie gewidmet. Als Autor einer Doktorarbeit über Rémonds Tätigkeit an der Universität Nanterre zwischen 1968 und 1976 ist er einschlägig ausgewiesen. Seine Darstellung gliedert sich in 13 überwiegend thematisch ausgerichtete Kapitel, die gleichwohl alle wichtigen Lebensabschnitte Rémonds, einschließlich seiner wissenschaftlichen Karriere und seines umfangreichen Oeuvre abdecken: Es beginnt mit der Prägung durch ein katholisch-konservatives Elternhaus, aus der bereits in jungen Jahren ein entsprechendes Engagement in der Jeunesse étudiante chrétienne erwuchs. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges als Soldat eingezogen, schloss sich Rémond nach der deutschen Besetzung Frankreichs dem Widerstand an. Zeitgleich studierte er an der École nationale supérieure in Paris, nach Kriegsende dann an der Sorbonne. Dort folgte 1952 die Promotion bei Charles-Hippolyte Pouthas zum französischen Amerikabild in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Schon dieser »Erstling« belegte, wie unzutreffend das Etikett des reinen Politik- und Zeithistorikers ist, das Rémond lange anhing. Es erklärte sich nicht nur mit seiner akademischen Sozialisation in der Renouvin-Schule, sondern auch aus der Tatsache, dass er bereits 1956 an das nach Kriegsende neu gegründete Institut d’études politiques de Paris (Sciences Po) berufen wurde. Tatsächlich bestärkte diese Tätigkeit aber nur jene Eigenschaften, die dann über die Jahre die Reputation des Historikers begründen sollten: das Interesse für Politik, aber auch das Politische im weitesten Sinne und somit die Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit; die Überzeugung von der longue durée und folglich vom Nutzen der Kenntnis der Vergangenheit für ein besseres Verständnis der Gegenwart und schließlich eine rege, unmittelbar aus der Lehre erwachsende Publikationstätigkeit eben nicht nur zu Themen der politischen, sondern auch der Ideen- und Religionsgeschichte seit 1789.

Seine trotz starker weltanschaulicher Überzeugungen prinzipielle Aufgeschlossenheit sollte Rémond überdies erlauben, wiederholt »Mittler« in Konfliktsituationen zu werden: so während der Studentenproteste im Mai 1968, die er an der wenige Jahre zuvor gegründeten geisteswissenschaftlichen Fakultät in Nanterre erlebte. Obwohl er die gewalttätigen Aktionen, die damit einhergingen und deren Opfer er selber vereinzelt wurde, verurteilte, hielt er einen Teil der studentischen Forderungen dennoch für legitim. Das brachte ihm am Ende die Anerkennung der verschiedenen Lager ein, so dass er zum Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät und schließlich sogar zum Präsidenten der neuen Universität Paris-X gewählt wurde, ein Amt, das er zwischen 1971 bis 1976 inne hatte.

Die Übernahme der Führungsaufgaben in Nanterre zeugte von Rémonds Bereitschaft, sich über Lehre und Forschung hinaus auch administrativ-institutionell zu engagieren. Dies beschränkte sich wiederum nicht nur auf den universitären Rahmen, wie insbesondere die zweite Phase seiner Karriere belegte: Teilweise zeitgleich mit seinen Führungsaufgaben in Nanterre übernahm Rémond die Leitung des Centre catholique des intellectuels français, hinzu kam seine starke mediale Präsenz und schließlich in späteren Jahren noch neue wichtige Leitungsfunktionen: u. a. als Präsident der Fondation nationale des sciences politiques sowie innerhalb der Untersuchungskommission zur Verwicklung katholischer Stellen in die Flucht des ehemaligen Kollaborateurs und Vichy-Funktionärs Paul Touvier und der sogenannten Kommission Stasi (benannt nach ihrem Vorsitzenden Bernard Stasi), die Jacques Chirac 2003 berief, um ihn im Hinblick auf die Anwendung des Laizitätsprinzips im öffentlichen Leben Frankreichs zu beraten. Seine »consécration« (Mercier) erfuhr Rémond schließlich in den 1990er-Jahren, kulminierend 1998 in seiner Wahl in die Académie française.

Alle Kapitel seines Buches belegen Merciers profunde Kenntnisse von Rémonds Biografie, einschließlich seiner wichtigsten Veröffentlichungen, die ausführlich interpretiert werden. Trouvaillen darf man sich wiederum nicht unbedingt erhoffen. Dagegen spricht schon die Tatsache, dass Rémond sich zu seinen Lebzeiten wiederholt selber mündlich und schriftlich zu seiner Person geäußert hat. Mercier hatte zwar darüber hinaus Zugang zum Nachlass des Historikers, indes bezieht er sich sehr oft auf die bereits publizierten »Ego-Dokumente« Rémonds. Dies erklärt sicher auch die deutliche Sympathie, die Mercier seinem »Helden« entgegenbringt. Indes mindert dies nicht den Wert seiner Darstellung, zumal er auch nicht die »Grenzen der Apotheose« Rémonds unterschlägt.

Mercier zeigt alles in allem die bemerkenswerte Laufbahn eines Mannes auf, der sowohl als Historiker, als auch als ein engagierter und sehr reflektierter (katholischer) Intellektueller gewirkt hat. Insofern erfährt der Leser beziehungsweise die Leserin auch viel über beide Milieus: das akademische mit seinen französischen Spezifika, einschließlich der Auseinandersetzung zwischen Annales- und Renouvin-Schule, die an jene in Deutschland zwischen politischer Geschichte und (Bielefelder) Sozialgeschichte erinnert und doch schon in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, ganz anders als in Deutschland, deutlich entschärft wurde, nicht zuletzt wegen der vermittelnden Positionen Rémonds. Hinzu kommt die Sphäre der gesellschaftlichen Debatten in Frankreich, an der sich Rémond als engagierter Zeitgenosse beteiligte, sei es in Form seiner zeitweise sehr starken medialen Präsenz, sei es durch seine politische Beratertätigkeit. Gerade diese Aktivitäten, ihr gesellschaftlich-historischer Kontext, aber auch die Ambivalenz von Reputation und Frustration, die damit für Rémond einherging, sowie schließlich die Netzwerkbildung im Dreieck von Wissenschaft, Politik und Medien, die Rémond aktiv betrieb, sind für ein in-, vor allem aber auch ein ausländisches, an Frankreich interessiertes Publikum mit großem Gewinn zu lesen.

1 René Rémond, Frankreich im 20. Jahrhundert, Bd. 1: 1918–1958, Bd. 2: 1958 bis zur Gegenwart, Stuttgart 1994/1995 (Geschichte Frankreichs, 6,1/6,2).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Reiner Marcowitz, Rezension von/compte rendu de: Charles Mercier, René Rémond. Une traversée du XXe siècle. Préface de Pierre Nora de l’Académie française, Paris (Salvator éditions) 2018, 414 p., ISBN 978-2-7067-1696-6, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62906