Hedwig Richter setzt sich in ihrer Habilitationsschrift umfassend mit der Geschichte des Wahlrechts und der Wahlpraxis auseinander und spürt dem Verhältnis von Wahlen und Demokratie im 19. Jahrhundert nach. Der Vergleich zwischen den so unterschiedlichen politischen und sozialen Verhältnissen in Preußen und den USA – traditionsreiche Monarchie hier, junge Republik dort – ist interessant und innovativ. Richter macht es sich zur Aufgabe, jenseits von Nationalstaatsgrenzen nach gemeinsamen Nennern Ausschau zu halten, auf deren Basis sich im 19. Jahrhundert demokratisierende Entwicklungen vollzogen. Da Wahlrechtsgeschichte nach wie vor vorwiegend in nationalstaatlichen Kontexten verstanden und erforscht wird, ist der weitgefasste Rahmen der Arbeit nicht nur ambitioniert, sondern auch methodisch sinnvoll.

Drei Thesen stehen im Zentrum, mit denen die Autorin vor allem diese gemeinsamen Nenner und überstaatlichen Faktoren in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt: Richters erste These lautet, dass Wahlen zu Beginn der modernen Demokratiegeschichte eher »von oben« oktroyiert als »von unten« – also von Seiten nicht repräsentierter Bevölkerungsgruppen – eingefordert wurden. Richter analysiert unter anderem die Funktion von Wahlen als Disziplinierungsinstrument in den Händen von Amtsträgern und Eliten.

Die zweite These bezieht sich auf die Entwicklung von Massenpartizipation, die laut der Autorin nicht von einer normativen Dynamik angeschoben wurde, zum Beispiel durch politische Forderungen in einem Freiheitskampf. Stattdessen seien es häufig sozialstrukturelle Bedingungen, die demokratische Prozesse förderten: Wahlen wurden zum Beispiel durchgeführt, um bestimmte Bevölkerungsgruppen zu integrieren. Mit ihrer dritten These verweist die Autorin schließlich auf deutliche Parallelen in der Entwicklung freier Wahlen in Preußen und den USA, trotz der sehr unterschiedlichen politischen Systeme.

Die Arbeit widerspricht – vollkommen zu Recht – Vorstellungen von Demokratieferne der deutschen Länder im langen 19. Jahrhundert, wie sie vor allem in der Sonderwegthese diskutiert wurden, und argumentiert auch gegen die US-amerikanische Exzeptionalismusthese. Dieses Argument ist an sich nicht neu, die Fallstudie besticht aber durch ihre innovative Methodik und den mutigen Blick über die Nationalstaatsgrenzen hinaus.

Eine große Stärke des Buches liegt nämlich genau darin, dass es die politische Kulturgeschichte von Wahlen aus vielen Perspektiven in den Fokus nimmt: Wer wählte, wann, warum und wie? Welche Werte, Erwartungen und Erfahrungen verbanden die Beteiligten mit dem Wahlgang? Richter definiert den Wahlakt als »erklärungsbedürftigen Brauch« (S. 24) und untersucht die Praktiken, den eigentlichen Vorgang und die Materialität von Wahlen. Das Buch interpretiert Wahlen und Politisierung der Gesellschaft aber auch als Ausdruck von Veränderungen in der Selbstwahrnehmung der Akteure, die sich im 19. Jahrhundert zunehmend als Individuen verstanden.

Die Autorin analysiert die Körperlichkeit der Wähler und des Wahlganges – zum Beispiel Schlägereien oder das Stehen in einer Wahlkabine – ebenso wie die zunehmende Erfassung und Normierung des Staatsbürgers – zum Beispiel die Registrierung für Wahlen. Die Ökonomie entstehender Demokratien wird somit ebenso in Betracht gezogen wie ihre Geschlechterverhältnisse, die urbanen Verhältnisse in New York und Berlin verglichen mit denen in ländlichen Gebieten wie Pommern und South Carolina. Wir lernen, warum in den US-amerikanischen Wahlen der männlichen Jugend mehr politisches Verantwortungsbewusstsein zugetraut wurde als in Preußen, und wie die Autoritäten dafür sorgten, dass der Wahlgang halbwegs gesittet ablief. Diese umfassende und interdisziplinäre Perspektive ruht auf einer starken archivalischen Quellenbasis und einer beeindruckenden Sammlung von Artikeln aus Zeitungen, Zeitschriften und Periodika.

»Moderne Wahlen« ist chronologisch angelegt und folgt der politischen Kulturgeschichte von Wahlen über einen langen Zeitraum vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Die Struktur zeigt Veränderungen und Entwicklungen auf, und eine Anregung für die Autorin könnte lauten, die eingangs vorgestellten Thesen um einige zu erweitern, die diese Veränderungen und vor allem auch die Unterschiede zwischen den US-amerikanischen und preußischen Wahlkontexten herausstellen. So hilfreich es für den Leser auch ist, die Gemeinsamkeiten, die durch den Vergleich ans Licht kommen, prominent als »Orientierungshilfe« in drei starken einleitenden Thesen angeboten zu bekommen, der Vergleich zeigt doch wesentlich mehr Facetten, die erst am Ende des Buches stärker kontextualisiert werden. Letztlich sind die Unterschiede doch ebenso spannend und lehrreich wie die Parallelen, was dieses Buch mit seinem Reichtum an Material, Beispielen und methodischen Ansätzen einmal mehr beweist.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Heide Mehrkens, Rezension von/compte rendu de: Hedwig Richter, Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert, Hamburg (Hamburger Edition) 2017, 656 S., 54 s/w Abb., ISBN 978-3-86854-313-1, EUR 42,00., in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62907