Am 9. März 1945 geriet der 21-jährige Luftwaffensoldat Helmut Evers am Nürburgring in amerikanische Gefangenschaft. Noch im selben Monat wurde er in ein Gefangenenlager nach Frankreich transportiert, das bald von der amerikanischen Obhut in die französische überging. Damit war Evers einer von rund 700 000 deutschen Kriegsgefangenen, die von Amerikanern und Briten an ihren französischen Alliierten übergeben wurden; hinzu kamen 300 000 Deutsche, die unmittelbar von französischen Truppen gefangengenommen worden waren. Die Franzosen hatten ein großes Interesse daran, diese Gefangenen als Arbeitskräftereservoir zu nutzen, sodass drei Viertel von ihnen schließlich für den Wiederaufbau des Landes eingesetzt wurden. Evers selbst arbeitete wie viele andere auch im Kohlebergbau. Bis September 1947 blieb er, das letzte halbe Jahr davon in der Position eines sogenannten »freien Zivilarbeiters«, in französischem Gewahrsam und kehrte dann in seine Heimatstadt Hamburg zurück.

Über den gesamten Zeitraum seiner Gefangenschaft hat Helmut Evers ein Tagebuch geführt, das sein Großneffe Joachim Sistig nun in einer kommentierten kritischen Edition vorlegt. Der bei Peter Lang erschienene kleine Band umfasst einen 80 Seiten starken Editionsteil, der durch abgebildete Originalseiten und zeitgenössische Fotografien bereichert wird. Dem Tagebuch vorangestellt ist ein 20-seitiger Kommentar des Herausgebers, in dem er die Quelle in ihren historischen Kontext einordnet.

Das Tagebuch von Helmut Evers stellt eine interessante Quelle über das Leben deutscher Kriegsgefangener in französischem Gewahrsam dar und dokumentiert in seiner Langzeitperspektive Entwicklungen und Veränderungen im Lebensalltag. Zugleich vermitteln die in einem nüchternen, teilweise sogar lakonischen Stil verfassten Einträge die ganze Breite des zunächst vor allem von Hunger und Verzweiflung geprägten Gefangenenalltags. Von März bis Dezember 1945 befand sich Evers im Lager Thorée-les-Pins, dem größten Gefangenenlager in Frankreich.

Dort waren bis zu 40 000 Mann auf engstem Raum unter katastrophalen Versorgungs-, Unterkunfts- und Hygienebedingungen zusammengepfercht. Allein am 19. Oktober 1945, so Evers in seinem Tagebuch, seien dort 32 Mann gestorben. Die Erfahrung des Hungers war für die Gefangenen prägend. Dementsprechend machen bei den Tagebuchaufzeichnungen in den ersten Monaten präzise Auflistungen der erhaltenen Verpflegung einen wesentlichen Teil der Eintragungen aus. Daneben thematisierte Evers auch mehrfach Misshandlungen durch französische Bewacher. Auf eine sukzessive Besserung der Verhältnisse im Lager lässt schließlich die Entstehung eines regen Schwarzmarkts schließen.

Auch Evers beteiligte sich mit besonderem Eifer an solchen Tauschgeschäften, in welche die Franzosen der Umgebung involviert waren. Ein Schwarzmarktregister aus seinem Tagebuch (vgl. S. 49), das präzise alle An- und Verkäufe mitsamt den Kosten und Gewinnen verzeichnet, belegt mit der Intensivität dieses Geschäfts zugleich auch die engen Kontakte zur französischen Bevölkerung. Mit der allgemeinen Verbesserung der existenziellen Lebensgrundlagen gewann das kulturelle Leben für den Einzelnen an Bedeutung. Der Anhang des Bands gibt eine Reihe von Texten, die Evers im Zusammenhang mit dem Kulturprogramm im Lager verfasst hatte, wieder. Es handelt sich dabei um humoristische Gedichte und Vorträge sowie um einen Brief über die Freizeitgestaltung im Lager an die Young Men’s Christian Association (YMCA), einer christlich-evangelikalen Organisation, die sich auch im Bereich der Gefangenenfürsorge engagierte.

Im Dezember 1945 kam Evers in das Braunkohlebergwerk von Veyrines-de-Domme in der Dordogne. Dort war er in der Außenstelle (kommando) eines Lagers (dépôt) beschäftigt. Betriebe und Gemeinden konnten sich Gefangene als Arbeitskräfte zuweisen lassen. Dies hatte zur Folge, dass die Bewachung und Verpflegung der Kriegsgefangenen letztlich vom jeweiligen Chef, dem patron, abhängig war. Das Tagebuch von Evers macht deutlich, wie sich nach anfänglichen Schwierigkeiten auf beiden Seiten ein zunehmendes Einvernehmen einstellte. Als sich die französische Regierung nach amerikanischem Drängen zur Freilassung der Kriegsgefangenen bis Ende 1948 entschlossen hatte, begannen massive Werbemaßnahmen unter den Gefangenen, um sie auch weiterhin als Arbeitskräfte in der französischen Wirtschaft nutzen zu können. Auch Evers arbeitete, allerdings noch mit dem Status eines Kriegsgefangenen, in den letzten Monaten als travailleur civil libre mit tarifüblichem Lohn.

Ein besonderer Quellenwert von Evers’ Aufzeichnungen liegt darin, dass sich der Verfasser in seinem Tagebuch um minutiöse Angaben bemühte, die von der erkennbaren Absicht geleitet waren, seine Zeit in Gefangenschaft präzise zu dokumentieren. Eine Reflexion über die eigene Situation und die allgemeine Lage findet sich in seinen Notizen hingegen nur am Rande. Durch die hervorragende Editionsarbeit des Herausgebers gewinnt die Quelle für den Leser ganz deutlich an Wert. Ausgesprochen kenntnisreich hat Joachim Sistig, der sich als promovierter Studienrat und Lehrbeauftragter bereits seit Jahren intensiv mit den deutsch-französischen Beziehungen beschäftigt, das Tagebuch mit zahlreichen erklärenden Anmerkungen versehen. In seiner als »Vorwort« bezeichneten Einleitung sucht der Herausgeber das Tagebuch sowohl chronologisch als auch thematisch zu analysieren und nutzt dafür eine Gliederung, die teilweise weniger überzeugend ist; so ist beispielsweise die Funktion von Kapitel 3 im Gesamtgefüge nicht ersichtlich. Zudem wäre eine etwas ausführlichere Darstellung des Forschungsstandes für Leserinnen und Leser sicherlich von Nutzen gewesen.

Trotz dieser kleineren Mängel gelingt es Sistig in seinem »Vorwort«, das Tagebuch seines Großonkels auf Grundlage des Forschungsstandes klug und mit Gespür für die wesentlichen Fragen in einen breiteren Kontext der Zeit und des Themas einzuordnen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Oliver Stein, Rezension von/compte rendu de: Joachim Sistig (Hg.), Ein deutscher Kriegsgefangener in Frankreich. Das Tagebuch des Veyrines-de-Domme, Berlin, Bern, Wien (Peter Lang) 2018, 114 S., 18 s/w Abb., 3 Tab , ISBN 978-3-631-75649-2, EUR 36,00, in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62910