Das kleine nordostfranzösische Dorf Berry-au-Bac sowie die angrenzende Höhe 108 und ihre Bedeutung im Ersten Weltkrieg stehen im Mittelpunkt des von dem französischen Historiker Fabien Théofilakis herausgegebenen Sammelbands. Wie viele andere französische Dörfer steht der Ort für die Sinnlosigkeit und das Grauen des maschinellen Tötens im Stellungskrieg. Verbissen hatten französische und deutsche Truppen um die strategisch wichtige Höhe 108 an der Aisne gekämpft und das zu ihren Füßen liegende Dorf in ein Trümmerfeld verwandelt. Zählte Berry-au-Bac vor dem Kriegsausbruch noch 820 Einwohner, waren es nach dem Krieg nur noch 221.

Trotz seiner strategischen Bedeutung im Rahmen der Aisne-Front ist Berry-au-Bac heute fast gänzlich in Vergessenheit geraten und lediglich auf lokaler Ebene ein Mythos. Mit Blick auf den centenaire des Jahres 2014 gründeten die Einwohner des Dorfes den Verein Correspondance. Côte 108, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Berry-au-Bac landschaftlich und wissenschaftlich wieder neu zu erschließen. Die Initiatoren beauftragten den Herausgeber des Sammelbands mit der wissenschaftlichen Leitung des Projekts, das mit deutsch-französischer Perspektive angelegt werden sollte. Der nationale Rahmen sollte überwunden, stattdessen eine binationale Geschichte des Ersten Weltkriegs auf lokaler Ebene geschrieben werden (S. 25).

Durch zahlreiche Institutionen finanziell gefördert, unter anderem durch die Mission du centenaire de la Première Guerre mondiale, fädelte Théofilakis eine Kooperation zwischen der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Université Paris Nanterre ein. Die Geschichte Berry-au-Bacs und der Höhe 108 im Ersten Weltkrieg wurde auf diese Weise von sieben Nachwuchswissenschaftlern aus Frankreich und Deutschland erforscht.

Das Ergebnis ist ein 400 Seiten starker Sammelband, der sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch vorliegt. Théofilakis und sein sieben Junghistorikerinnen und -historiker umfassendes Autorenteam erheben den Anspruch, politische, militärische, soziale und kulturelle Aspekte des Krieges im Raum um Berry-au-Bac zu verweben und in ihren insgesamt 19 Einzelstudien aufzugreifen. Dieses ehrgeizige Versprechen, soviel sei bereits vorweggenommen, löst der in vier Abschnitte gegliederte Band im Großen und Ganzen ein. Während sich der erste Teil auf Berry-au-Bac sowie die kriegsbedingten Veränderungen des Orts konzentriert und dabei auch die strategische Bedeutung der Aisne-Front anreißt, widmet sich der zweite Teil der Einbettung in das Kriegsgeschehen. Hier werden die zahlreichen Versuche beider Seiten geschildert, mit waffentechnischen Innovationen die Pattsituation des Stellungskriegs an der Aisne zu beenden, beispielsweise mit einem großangelegten Panzervorstoß oder mit einer Ausweitung des Luftkriegs. Anschließend fokussiert sich Teil drei auf den Erfahrungsalltag der Soldaten, sodass der Band einen weiteren Beitrag zur »Militärgeschichte von unten« leistet, in der das Kriegserleben des »kleinen Mannes« im Vordergrund steht. Der vierte und letzte Abschnitt stellt schließlich die deutsche Besatzung an der Aisne, die Etappengebiete der beiden Kriegsparteien und die französische Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt. Damit schaut der Sammelband dankenswerter Weise über den Tellerrand der rein militärischen Sphäre hinaus.

Im Stile einer »histoire croisée« (S. 25), einer deutsch-französischen Verflechtungsgeschichte, bemühen sich die Autoren in ihren Beiträgen, die Wahrnehmungen beider Kriegsparteien zu schildern. Da jede Studie sowohl von einem französischen als auch einem deutschen Nachwuchshistoriker bearbeitet wurde, gelingt die Bewältigung dieser keineswegs leichten Aufgabe recht gut. Dass der Band aus einem regionalen Anstoß heraus initiiert wurde, merkt der Leser beziehungsweise die Leserin auch anhand des Beitrags von Caroline Guerner, eine der Mitbegründerinnen des Vereins Correspondance. Côte 108. Hier wird die heutige Erinnerung an die Kämpfe um die Höhe 108 in den Blick genommen. An dieser Stelle wären nach Meinung des Rezensenten aber tiefergehende Schilderungen durchaus wünschenswert gewesen, um den Wandel des Gedenkens von 1918/1919 bis heute zu untersuchen. Wie der Herausgeber selbst einräumt (S. 30), war ein solcher Beitrag ebenso geplant wie eine Untersuchung der militärischen und geistigen Demobilisierung der Soldaten, die an der Aisne kämpften. Beide Themenfelder, die sich letztlich nicht realisieren ließen, hätten den Sammelband sicherlich noch weiter bereichert.

Nach dem eigentlichen inhaltlichen Teil des Bands folgen Interviews mit Archivaren aus französischen und deutschen Archiven, die für die Erforschung des Ersten Weltkriegs zentrale Bedeutung besitzen. Auch wenn diese Beiträge durchaus interessant zu lesen sind und das Ziel des Bands unterstreichen sollen, dem Ersten Weltkrieg wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen, hätte sich der Rezensent doch eine engere Verknüpfung der Interviews mit der Region um Berry-au-Bac und dem Forschungsprojekt gewünscht. Abgerundet wird der Band schließlich von Wencke Metelings luzidem Überblick über das unterschiedliche Gedenken an den Ersten Weltkrieg in Frankreich und Deutschland, das die deutsche Militärhistorikerin unter anderem auf Basis der verschiedenartigen Herangehensweisen der deutschen und der französischen Regierung an den centenaire verdeutlicht.

Insgesamt legen Théofilakis und seine sieben Nachwuchsforschenden ungeachtet der genannten kleineren Monita einen lesenswerten Sammelband vor, der unseren Einblick in das Kriegserleben des »kleinen Mannes« noch einmal erweitert und eine fast vergessene Region, die Aisne-Front, wieder ins Gedächtnis der Historiografie zum Ersten Weltkrieg zurückruft. Lesenswert ist er nicht nur für ausgebildete Historiker und Historikerinnen und interessierte Laien, sondern vor allem auch für angehende Geistesforschende: Schließlich zeigen die Beiträge auf, was es heißt, historisch zu arbeiten und auf das »Veto der Quellen« zu hören.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Lukas Grawe, Rezension von/compte rendu de: Fabien Théofilakis (Hg.), Die Höhe 108 bei Berry-au-Bac im Ersten Weltkrieg. Die Fronten an der Aisne aus deutscher und französischer Sicht, Brüssel (Peter Lang) 2018, 406 S., 41 Abb. (Deutschland in den internationalen Beziehungen, 12), ISBN 978-2-8076-0556-5, CHF 32,70., in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62911