Wer sich als deutscher Leser mit diesem Buch auseinandersetzt, wird sich erstaunt fragen, ob man zehn Jahre auf einem brodelnden Vulkan gesessen hat, ohne es zu merken. Die spätestens seit dem Zusammenbruch der Investitionsbank Lehman Brothers im September 2008 virulente Finanzkrise hat zwar 2009 in Deutschland einen scharfen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts von 5,5 Prozent hervorgerufen – einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik –, doch ist dies zumindest in der retrospektiven Wahrnehmung durch den erstaunlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit überlagert worden. Die Finanzkrise fand anderswo statt.

Tooze’ Darstellung der Finanzkrise seit 2008 ist die erste eines ausgewiesenen Historikers. Der britische Autor lehrt als Wirtschaftshistoriker an der New Yorker Columbia University und ist ein sehr guter Kenner Deutschlands, wo er mehrere Jahre lebte und studierte. Er hat sich nichts weniger als eine Globalgeschichte der Krise vorgenommen und damit zweifellos Standards gesetzt. Die Quellenbasis seiner immens detailreichen Studie bilden zum einen Artikel in der Finanzpresse, v. a. der »Financial Times« und des »Economist«, aber auch Memoiren der führenden Protagonisten (z. B. Ben Bernanke und Tim Geithner). Zum Teil sind auch schon Regierungsdokumente veröffentlicht.

Deutschland spielt in seiner Darstellung nur eine Nebenrolle. Die Krise ging vom US-amerikanischen Immobilienmarkt aus (Subprime-Krise). Seit den 1990er Jahren förderten die US-Regierungen den Erwerb von Wohneigentum durch Rahmenbedingungen, die es Banken erlaubte, günstige Kredite zu vergeben, auch und gerade an einkommensschwache Haushalte. Der Immobilienboom wurde durch die Niedrigzinspolitik infolge von 9/11 und dem nachfolgenden Platzen der Dotcom-Blase weiter angeheizt und führte dazu, dass viele Privathaushalte ihre Immobilien mit Hypotheken beliehen, um damit weitere Immobilien zu erwerben. Die Hypothekarkredite wurden von den Banken zu Finanzinstrumenten gebündelt und weiterverkauft, zumal sie von willigen Rating-Agenturen als sicher eingestuft worden waren.

Als die Spekulationsblase 2007 platzte, kamen nicht nur die US-amerikanischen Finanzmärkte in die Gefahr einer finanziellen Kernschmelze, sondern auch die europäischen. Europäische Banken hatten sich munter an der Spekulation beteiligt, insbesondere britische und niederländische. Aber auch deutsche Banken waren in hochriskanten Anleihen engagiert, in denen riskante Hypothekarkredite gebündelt waren. Die Finanzkrise und ihre Übertragung auf den Rest der Welt, insbesondere auch Europa, war also nicht allein von einem enthemmten amerikanischen Finanzsektor verschuldet, sondern auch von genauso gierigen europäischen Kreditinstituten, wie Tooze zu betonen nicht müde wird.

Einen Großteil seiner Darstellung nehmen die vielen Rettungsmaßnahmen ein, die er mit viel Sinn für Dramaturgie zum Teil minutiös nachzeichnet. Die US-amerikanische Krisenpolitik, insbesondere die der amerikanischen Notenbank (Fed) kommt dabei vergleichsweise gut weg. Nachdem im September 2008 das Kind in den Brunnen gefallen war und eine Finanzkrise ungeahnten Ausmaßes drohte – mit entsprechenden Auswirkungen auf die reale Wirtschaft, insbesondere die Beschäftigung – gab die Fed Ende 2008 ein unbegrenztes Versprechen ab, die amerikanischen Finanzmärkte zu stützen. Das rettete die Banken (weltweit), die Einlagen der Sparer und vermutlich viele Arbeitsplätze in den USA, auch und gerade außerhalb des Finanzsektors, nicht aber die sage und schreibe 9,3 Millionen US-amerikanischen Familien, die im Zuge der Krise ihre Häuser verloren.

Auf europäischer Seite herrschte Uneinigkeit, wie die Ausbreitung der Krise einzudämmen sei. In Tooze’ Darstellung kommt die deutsche Politik von Angela Merkel und insbesondere ihrer Finanzminister Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble schlecht weg. Diese Bremser hätten die Dimension der Krise lange verkannt und dadurch, dass sie letztlich in der Eurozone Austeritätsprogramme in der europäischen Peripherie durchsetzten, dort großes Leid verursacht. Die eigenen Banken waren den in EU und Eurozone maßgeblichen Politikern wichtiger als die Arbeitsplätze in der Peripherie. Während in den USA einkommensschwache Hausbesitzer die Hauptlast der Krise trugen, waren es in Südeuropa Menschen, die im Zuge der von der Eurozone auf deutsches Drängen verordneten strikten Haushaltspolitik ihre Jobs verloren. Erst Mitte 2012, fast vier Jahre nach der Fed, gab die Europäische Zentralbank ein ähnlich klares Signal, die Märkte zu stützen, »whatever it takes«, so EZB-Präsident Mario Draghi.

Als profilierter Historiker hat Tooze Sinn für die großen Zusammenhänge. Er sieht einen klaren Zusammenhang zwischen der zögerlichen EU-Krisenbekämpfungspolitik und ihren fatalen sozioökonomischen Folgen und dem nationalistischen backlash in den Vereinigten Staaten sowie vielen Staaten der Europäischen Union. Letztlich hinterlässt Tooze’ fulminante Darstellung einen zutiefst verunsicherten Leser, denn die Finanzkrise hat zwar vieles verändert, wie er im Titel unterstreicht, nicht aber die Bedingungen, die sie hervorriefen. Renditegierige Banken (hinter denen letztlich auch renditeheischende Sparer stehen) können damit rechnen, dass sie von der Politik gestützt werden, weil sie systemrelevant (»too big to fail«) sind. Gewinne bleiben privat, Verluste werden sozialisiert. In einer gerade auch finanziell immer enger vernetzten Welt kann nur eine angemessene Regulierung, die systemerhaltende Anreize setzt, verhindern, dass es doch noch zu dem gewaltigen Finanzcrash kommt, den die Protagonisten in Tooze’ Darstellung (Politiker und Zentralbanker) immer wieder im letzten Moment vermeiden konnten. Tooze spricht sich daher auch für eine Rückbesinnung auf die »politische Ökonomie« im ursprünglichen Sinne des Worts aus.

Tooze’ Darstellung ist so komplex wie die Materie, die er beschreibt und analysiert und daher nicht immer auf Anhieb zu verstehen. Er schafft es jedoch (und in der sehr guten deutschen Übersetzung geht davon kaum etwas verloren), Spannungsbögen aufzubauen und cliffhanger zu setzen, die auf das Folgekapitel neugierig machen. Wer sich aus historischer Sicht für die Finanzkrise oder aus politischer Sicht für die globalen finanziellen Zusammenhänge interessiert, ist mit diesem 800-seitigen Buch bestens bedient.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Mark Spoerer, Rezension von/compte rendu de: Adam Tooze, Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, Karsten Petersen und Thorsten Schmidt, München (Siedler Verlag) 2018, 800 S., ISBN 978-3-8275-0085-4, EUR 35,00., in: Francia-Recensio 2019/2, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62912