Während 2017 das Reformationsgedenken im deutschsprachigen Raum weit über den kirchlichen Binnenraum hinaus wahrgenommen wurde, war eine vergleichbare Aufmerksamkeit im französischsprachigen Raum nicht zu erwarten: In Frankreich selbst bleibt auch der schwächelnde Katholizismus gegenüber dem Protestantismus dominant, in anderen französischsprachigen Gegenden macht sich die innerprotestantische Vielfalt bemerkbar, sodass das Jahr 1517 und der eng mit der deutschen Geschichte verbundene Martin Luther weniger im Fokus liegen. Ausgerechnet in der Calvin-Stadt Genf, die sich übrigens aufgrund des ihr eigenen Verständnisses von Laizismus mit dem Calvin-Jubiläum des Jahres 2009 eigenartig schwer tat, erschien nun ein durchaus aufschlussreicher Seitenblick auf die Frage nach einer der Vielfalt der Reformationen zugrundeliegenden Einheit. Den Band, der an der Universität Lausanne gehaltene Vorträge vereint, eröffnet der Straßburger Lutherexperte Matthieu Arnold mit einer Analyse der 95 Thesen Luthers. Für deutschsprachige Reformationshistoriker und -historikerinnen mag dies offensichtlich erscheinen, in calvinistischen und zumal französischsprachigen Kontexten ist es aber durchaus sinnvoll, zunächst einmal die Ereignisse des Jahres 1517 zu kontextualisieren. Dass der Band nun aber nicht einfach eine Übersetzung deutschsprachiger Reformationsforschung ins Französische ist, verdankt er in besonderer Weise dem zweiten Beitrag, der – die Praxis der Reformationszeit aufnehmend – in Form einer Disputation zwischen Christophe Chalamet (Genf) und Pierre Gisel (Lausanne) gehalten ist.
Inhaltlich widmen sich die beiden Theologen den reformatorischen »Schlagwörtern«: solus Christus, sola scriptura, sola gratia, sola fide – durchaus auch Horizont des im calvinistischen Bereich betonten soli Deo gloria, auf dessen Nähe mit dem jesuitischen ad maiorem Dei gloriam (S. 34) Chalamet und Gisel hinweisen. Die unterschiedlichen Akzente, die sich durchaus ergänzen können, schreiben zwei faktische oder mögliche Interpretationslinien der Reformation fort, die subkutan den gegenwärtigen Protestantismus ebenso prägen wie den heutigen Katholizismus, der sich in weiten Teilen die Grundanliegen der Reformation längst zu eigen gemacht hat. Wenn Chalamet eher das Eigen- und Widerständige des Christlichen und Gisel eher dessen Kultur- und Inkulturationsfähigkeit betont, sind zwei innerchristliche Grundintuitionen benannt, die umso stärker wirken und zugleich hinterfragt werden, als das solus Christus heute, anders als in reformatorischer Zeit, nicht mehr in erster Linie binnenchristlich, sondern vor dem Hintergrund des Religionspluralismus zu durchdenken ist.
Die große theologische Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Heilsökonomie (vgl. S. 61) erscheint hier als ganz und gar geschichtlich eingebettete, die aber gerade als solche über die geschichtliche Einbettung hinaus weist. Für die weitere ökumenische Erforschung der Reformationszeit und der daraus hervorgehenden Konfessionskulturen erscheint diese geschichtstransversale Reflexion ein sehr vielversprechendes Vorgehen zu sein. Insofern ist allein die hier konkret durchexerzierte Methode dieses Beitrags ein spezifisches Verdienst des Bandes.
Auch der Beitrag von Marc Vial (Straßburg) und Simon Butticaz (Lausanne) über die Paulusinterpretation Luthers ist methodisch innovativ und bezieht die Wirkungsgeschichte als ebenso historische wie theologische Herausforderung mit ein. In der Zeit der sich insbesondere durch die Betonung von Gegensätzen herausbildenden Konfessionskulturen können die damit verbundenen inhaltlichen und sozialen Aspekte durch Ausnahmen, die die Regel bestätigen, in besonders eindrücklicher Weise ausgemacht und illustriert werden. In diesem Sinn ist der Beitrag von Christian Grosse (Lausanne) weit über die untersuchte Gegend um die Städtchen Orbe und Échallens von Interesse, wo durch die landestypischen rechtlichen und politischen Besonderheiten Regeln für eine Koexistenz der Konfessionen erarbeitet wurden.
Dass und wie die diversen Reformationsgedenken mittlerweile selbst Gegenstand der Reformationsgeschichtsforschung sind und auf diese zurückwirken, zeigt höchst eindrücklich Sarah Scholl (Genf/Cambridge) im abschließenden, dem 19. Jahrhundert gewidmeten Beitrag, und zwar urbi et orbi, vereint sie doch Ausführungen über die Genfer Erinnerungspolitik Ende des 19. Jahrhunderts (S. 160, 170) – mit Auswirkungen bis in die eingangs genannten Feierlichkeiten des Jahres 2009 hinein, möchte man hinzufügen – mit Überlegungen zu Genese und Geltungsanspruch eines zeitgenössischen Selbstverständnisses, das dem Protestantismus und mit ihm dem Christentum stärker verbunden ist, als es sich noch in seinen Absatzbewegungen eingestehen will.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Michael Quisinsky, Rezension von/compte rendu de: Simon Butticaz, Christian Grosse (éd.), Unité et diversité des Réformes. Du XVIe siècle à nos jours, Genève (Labor et Fides) 2018, 173 p., ISBN 978-2-8309-1648-5, EUR 19,00., in: Francia-Recensio 2019/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62939