Wer heute ein Buch über die Verfahrensentwicklung auf den Reichstagen in der Zeit Karls V. zur Hand nimmt, erwartet einen routinierten Beitrag zur Bedeutung von Zeremoniell und ritualisierten Abläufen, komplexen Interaktionen, der zeichenhaften Kommunikation unter Anwesenden und der Vergegenwärtigung von Kaiser und Reich durch Repräsentation. H. verweist zwar auf solche um das symbolische Kapital der Ehre kreisenden Darstellungen, belegt aber eindringlich, dass die Verfahren in erster Linie von den Teilnehmern und den zu behandelnden Inhalten abhängig waren. Die Etablierung flexibler, aber stets modifizierbarer Verfahren erfolgte mit dem Wandel von persönlich beratenden Fürsten zu Versammlungen gelehrter Räte, bei denen sich die Rangfolge nicht mehr quasi von selbst einstellte. Um Entscheidungen trotz zahlloser Streitigkeiten, insbesondere der vielen Sessionskonflikte, zu ermöglichen sowie Einheit und Einigkeit nach außen zu suggerieren, waren Verfahrensregeln unerlässlich. Sie wurden formuliert, wenn sich der Ablauf wie bei den Reichstagen 1529, 1530 und 1546 krisenhaft zuspitzte, weil sich die Minderheit dem Beschluss der Mehrheit in der Glaubensfrage nicht beugen wollte, sondern öffentlich protestierte oder vorzeitig den Ort des Geschehens verließ.

Kenntnisreich schildert der Verfasser zunächst die Entstehung des Reichstags als eines Teils des sich verdichtenden Reichsverbandes (Peter Moraw). Hier wäre freilich eine präzise Bestimmung des Teilnehmerkreises nötig und sinnvoll gewesen. Sie wird vermisst, wenn Stände auftauchten und Teilhaberechte reklamierten, die von anderen als landsässig deklariert wurden, oder deren Zugehörigkeit aufgrund ihrer Lage fragwürdig war. Dies gilt auch für Ferdinand als König und Kurfürst von Böhmen (S. 322). Ein kursorischer Blick in die Reichsabschiede zeigt jedoch, dass die zwischen Besuchspflicht und Partizipationsrecht changierende Teilnahme der Stände noch nicht eindeutig auf die deutsche Nation begrenzt war.

Der Reichstag gewann jedoch im Zeitalter Maximilians I. eine neue Qualität; die Organisation verfestigte sich unter Karl V., der zu selten präsent war, um das immer offener angestrebte reichsständische Mitregiment, die sog. deutsche Freiheit, wirklich blockieren zu können. Im Ringen um die politische Bedeutung des Reichstags entstanden dabei die Verfahren, deren oft zufällige Entwicklung H. anhand vieler gedruckter und ungedruckter Quellen glaubhaft nachweist. Er zeigt, dass die Verschriftlichung des Ablaufs in erster Linie eine Folge der Professionalisierung war, also des Regiments der gelehrten Räte. Selbst anwesende Fürsten ergriffen in den Ausschüssen und Kurien immer seltener das Wort und erschienen dort später gar nicht mehr.

Dass die Fürsten die Vertretung ihrer Interessen ihren Juristen überließen, hatte Folgen für das Reichstagsverfahren. Während sich unter den Kurfürsten, Fürsten und Grafen die Rangfolge mehr oder weniger von selbst ergeben hatte oder schnell ad hoc vereinbart worden war, mussten die Räte die Ehre und den Anspruch auf Vorrang ihrer Fürsten auf jeden Fall behaupten. Die daraus resultierenden Sessionsstreitigkeiten waren insofern auch eine Folge der Professionalisierung. Sie haben aber – und dies ist ein wichtiges Ergebnis – die Reichstagsarbeit selten blockiert, denn auch die Gesandten verständigten sich meist schnell um der Sache sowie des gemeinen Nutzens willen auf den täglich wechselnden Vorsitz. Vorbehaltsklauseln sorgten dafür, dass der eigene Rechtsanspruch nicht aufgegeben werden musste.

Im Einzelnen schildert Felix Hartmann im ersten Kapitel chronologisch den Ablauf der Reichstage zwischen 1521 und 1555 unter besonderer Berücksichtigung organisatorischer Aspekte, insbesondere der Umfragestreitigkeiten, des Kampfes der Freien und Reichsstädte um Stand, Stimme und Session, der Rolle des Regimentes und Ferdinands als Vertretern des Kaisers sowie des Ausschusswesens. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem formalen Ablauf der Reichstage vom Ausschreiben, den Gründen für den zunehmenden Verzicht auf das persönliche Erscheinen, der Entwicklung der Kuriatstimmen, der Registrierungspflicht, der Proposition und dem Abschied.

Der dritte Hauptteil gilt strukturell den Verhandlungsformen von der gemeinen Versammlung über die durch Auslagerung der Kurfürsten und Städte entstandenen drei Kurien (S. 173) bis zu den Ausschüssen, für deren Einrichtung es keine festen Schemata gab. Dies widerspricht dem »Ausführlichen Bericht« der Mainzer Kanzlei, der ein um 1560 normiertes Reichstagsverfahren suggeriert, das es so offensichtlich noch gar nicht gab. Der Verfasser deutet die Entstehung des Mehrheitsprinzips in den Umfragen als Notlösung, weil anders in den Glaubensstreitigkeiten kein Konsens mehr zu erreichen war. Die These, dass es Mehrheitsentscheidungen waren, weil sie für künftige Religionskonflikte 1552 und 1555 ausdrücklich ausgeschlossen wurden, überzeugt jedoch nicht völlig (S. 213f., 234, 328). Der Reichstag löste den Religionskonflikt nicht durch ein Mehrheitsvotum, sondern durch Ausklammern. Ein Konsens war nur noch über den politischen Rahmen für die Übertragung der Glaubensentscheidung an die einzelnen Reichsstände möglich.

Der vierte Hauptteil dient der konkreten Verfahrensentwicklung. H. geht zu Recht davon aus, dass Ordnungen nicht bewusst gesetzt wurden, sondern sich die aus Streit entstandenen Regelungen schnell zu Gewohnheitsrecht verfestigten, wenn niemand ausdrücklich widersprach. Später wurden die zunächst aus Billigkeit und Notwendigkeit akzeptierten Formen als altes Herkommen qualifiziert. Die größte als Kontinuität ausgegebene Neuerung war jedoch der Reichstag selbst. Reichsvizekanzler Seld wünschte ihn, von dem man früher nichts gewusst habe, in den Abgrund der Hölle, denn dann wäre man untereinander nicht uneinig und es könnten wieder große Dinge außerhalb Deutschlands verrichtet werden (S. 316f.)

Als Hauptergebnisse seiner Arbeit nennt Felix Hartmann die relativ schnelle Verstetigung immer feiner ausdifferenzierter Verfahrensregeln als Konsequenz der Machtübernahme der gelehrten Räte auf den Reichsversammlungen und den Religionsstreit als Ursache für die Auszählung von Mehrheiten in der Fürstenkurie. Man wird über diese und andere Einschätzungen weiter diskutieren können, aber unabhängig davon kommt an dieser akribisch recherchierten und präzise argumentierenden Darstellung niemand vorbei, der sich mit der Reichsgeschichte des 16. Jahrhunderts beschäftigt. Es ist zu wünschen, dass solche erhellenden Untersuchungen über das Reich und seine Institutionen auch dann noch publiziert werden, wenn die Edition der Reichstagsakten und anderer Großprojekte abgeschlossen sein wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Georg Schmidt, Rezension von/compte rendu de: Thomas Felix Hartmann, Die Reichstage unter Karl V. Verfahren und Verfahrensentwicklung 1521–1555, Göttingen (Vandenhoeck + Ruprecht) 2017, 370 S. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 100), ISBN 978-3-525-36088-0, EUR 70,00., in: Francia-Recensio 2019/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62942