Zu den wesentlichen Denk- und Handlungsbereichen, die sich dem als Realbeschreibung historischen Umbruchs verstandenen Sattelzeit-Konzept Reinhart Kosellecks nicht wirklich fügen wollen, gehört die (geistes- oder kulturwissenschaftliche) Wissenschaftsgeschichte. Denn die dort feststellbaren methoden-, theorie- und ideengeschichtlichen Transformationen und Innovationen setzten massiv schon im ausgehenden 17. Jahrhundert, in Späthumanismus und Frühaufklärung, in jedem Fall vor 1750 ein. Diesen Tatbestand unterstreichen auch die insgesamt elf Beiträge der vorliegenden Kollektion aus dem Kreis des auf diesem Feld bestens ausgewiesenen Hauptherausgebers. Was den Band explizit interessiert, ist das Geflecht der Bedingungen, Regeln und Praktiken der Umstrukturierung« der Gelehrsamkeit um 1700 und bis ca. 1750, die der in den Blick genommene lutherische Philosoph, Gymnasiallehrer und Theologe nach dieser Perspektive nicht nur exemplifizierte, sondern auch – und das mache eine seiner Besonderheiten aus – selbst thematisierte und reflektierte (S. XVf.).

Schon Christoph August Heumanns Ansatz, der Gelehrtengeschichtsschreibung durch kritischen Gelehrtenbesuch eine empirische Grundlage zu verschaffen, richtete die Auffassung zeitgenössischer Gelehrsamkeit neu aus, wie der zweite Herausgeber anhand einer Analyse von Heumanns niederländischem Reisetagebuch herausarbeitet. Wiebke Hemmerling erweitert diesen Befund durch Beobachtungen entsprechender Innovationen in der Gelehrtenstreitkultur, konkret Rezensionen zu und von Heumann. Der Hauptherausgeber, Martin Mulsow, weist in seinem ersten Aufsatz anhand von Heumanns »Poecile«, einer Korrespondenzzeitschrift spezifischen Zuschnitts, Emendation, das Streben nach »Ergänzung, […] Überbietung von bereits geleisteter Gelehrsamkeit« (S. 39) als erste Form Heumanns nach, mittels der er seine Erfahrungen und Ideen produktiv verarbeitete. Helmut Zedelmaier unterzieht den anschließenden »Conspectus reipublicae literariae«, das noch lange nach seinem Tod breit rezipierte Hauptwerk Heumanns, entsprechender Untersuchung, um es überzeugend als nicht historisch-erzählend, sondern unmittelbar bezogen auf wissenschaftliche Erkenntnis, analytisch zweckgebunden, auszuweisen.

Dass zu dieser Wissenschaft noch unaufhebbar kluge bis »politische« philosophisch-gelehrte Praxis gehörte, entwickelt in seinem offenbar letzten Aufsatz, wie bei ihm üblich ideengeschichtlich sehr quellennah, der 2015 früh verstorbene Merio Scattola, dem der gesamte Sammelband gewidmet ist. Marian Füssel knüpft an dieser Stelle mit einer gezielten Studie zu Heumanns eigener – wie sich zeigt: durchaus ambivalenter – Auffassung wesentlicher Dimensionen erfolgsträchtigen, aber zugleich ethisch guten Gelehrtenhabitus’ an und ordnet diese Position in die Entstehung eines neuartigen, »von konkreten Interaktionskontexten enthobene[n] wissenschaftlichen Feldes« ein (S. 126). M. Mulsows zweiter Aufsatz versucht sich quellenbedingt erst skizzenartig in einer Rekonstruktion von Heumanns Naturrechts-Kolleg von 1713, das er am Eisenacher Gymnasium einzurichten unternommen hatte.

Einen in seiner Klarheit höchst überzeugenden Überblick über Heumanns in einem dynamischen Dreieck von Tugend, Wissen und Sprache angesiedelte, originelle Wissenschaftskonzeption vermittelt anschließend Hanspeter Marti. Dann kann einerseits Christoph Bultmann belegen, dass Heumann in seinem zeitgenössisch typisch Grotius rezipierenden Versuch, evangelische Bibelexegese als weisheits- oder vernunftbasiert zu reklamieren, objektiv scheiterte, und muss Christof Landmesser andererseits konstatieren, dass der wegen reformierter Abendmahlsauffassung vorzeitig zwangspensionierte, erst nach Widerruf dieser Auffassung ordentlich emeritierte Theologe auch als Exeget des Neuen Testaments hinter seinen selbstgesteckten Maßstäben zurückblieb: die apologetische Imprägnierung wurde nicht überwunden. Dagegen kommt Heumann nach Bernward Schmidt immerhin das Verdienst zu, die Geschichte der angeblichen Päpstin Johanna »nachdrücklich und nachhaltig aus der konfessionellen Debatte herausgerissen und den Weg zu einer ›kulturhistorischen‹ Behandlung gewiesen zu haben« (S. 257f.). Wie andere Beiträge, ist auch dieser abschließende Aufsatz mit wertvollem bibliographischem Material zu Heumanns Werk angereichert.

Die Sammlung stellt unter Beweis, dass der methodische Zugriff, den Wandel einer komplexen Wissenschaftsformation durch kritische Untersuchung wesentlicher Werke eines bestimmten Autors zu fassen, zumindest dann höchst fruchtbar sein kann, wenn auch die entscheidenden gelehrtenpraktischen Voraussetzungen und Wirkungen einbezogen werden. Dennoch hat dieser Ansatz auch Grenzen. Mit Heumann, dessen Hauptleistung aus heutiger Sicht, eine Erneuerung der Philosophiegeschichte, nunmehr unbezweifelbar geworden ist, wird ein bestimmtes, wiewohl gewiss zentral positioniertes Teilfeld des evangelisch-lutherischen (also nicht: gesamt christlichen) Gelehrtentums in den Blick genommen. An dieses Feld müssen erst noch andere Felder angelagert werden, um ein vollständiges Bild zu erarbeiten.

Des Weiteren kann die grundsätzlich wissensinterne Perspektive, obwohl sie innovative gelehrtenpraktische Einbettung erfährt, Bedenken erregen. Wo bleiben möglicherweise für die innere wissenschaftliche Entwicklung mit entscheidende äußere Bedingungen wie z. B. Karrierestrategien und -taktiken, Familieninteressen, situative Determinanten? Sie tauchen nur sehr punktuell auf, so etwa in der Einführung, im Beitrag Kasper Risbjerg Eskildsens zu Heumanns Niederlandereise und bei Marian Füssel zum »politischen Philosophen Heumann«. Heumann war erwartungsgemäß Pastorensohn; auch diese Prägung könnte durchaus noch schärfer profiliert werden.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Wolfgang E. J. Weber, Rezension von/compte rendu de: Martin Mulsow, Kasper Risbjerg Eskildsen, Helmut Zedelmaier (Hg.), Christoph August Heumann (1681–1764). Gelehrte Praxis zwischen christlichem Humanismus und Aufklärung, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2017, XVI–265 S., 6 s/w Abb. (Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit, 12), ISBN 978-3-515-09647-8, EUR 54,00., in: Francia-Recensio 2019/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62946