Die Essaysammlung »Alternative Worlds Imagined, 1500–1700« gibt einen Einblick in das Schaffen des britischen Historikers John Colin Davis, der für seine Studien utopischer Denker des 17. Jahrhunderts interkontinentale Bekanntheit erlangte. Der im Jahre 2004 emeritierte Kenner der britischen Radikalen und Utopisten ist zeitlebens darum bemüht, mit Mythen der Geschichtsschreibung aufzuräumen, nicht nur im vorliegenden Band, sondern bereits in seinem 1986 erschienenen Werk »Fear, Myth and History: The Ranters and the Historians«1, in dem er erörterte, ob die Gruppe der radikalen, nonkonformistischen Ranters als einheitliche Aktionsgruppe interpretiert werden kann.

Die hier vorgelegte Essaysammlung zeugt von einem halben Jahrhundert Forschung zu radicalism und utopianism, in dem sich der Autor mit linguistischen, sozialen, kulturellen und materiellen Hemmnissen oder Gelegenheiten für subversive oder reformerische Ideen beschäftige (S. 1). Der Band spiegelt Davis’ Plädoyer für eine konsequente Historisierung unserer Kategorien und Denkmuster: Nicht zuletzt deshalb spricht Davis lieber von »radikalen Momenten« als von »Radikalen« (radicals) oder von »Radikalismus« (radicalism). Ferner warnt uns Davis davor, diese radikalen oder utopischen Strömungen anhand von Gegenwartsfragen zu beurteilen.

Dem Autor zufolge gibt es vornehmlich drei Gründe für eine herablassende Haltung gegenwärtiger Interpretationen: Erstens beurteilen Historikerinnen und Historiker die sogenannten radicals und utopians zu oft anhand ihrer Fähigkeit, zukünftige Entwicklungen zu antizipieren, was zur Folge hat, dass letztere an ihren Erfolgen gemessen werden. Gerade deshalb werden sie zweitens ebenfalls zu oft als »Träumer« und »realitätsferne Visionäre« bezeichnet. Eine solche Brandmarkung übersieht jedoch, so Davis, dass Realität immer fiktional durchzogen und imaginativ konstruiert wird (S. 3).

Eine Beurteilung als »unrealistisch« ist gerade deshalb für den Autor unangebracht, weil utopians die fiktive Konstruktion der bestehenden Ordnung entlarvten und ihr eine alternative Lebenswelten entgegenstellten. Einen dritten Kritikpunkt formuliert der Utopiekenner angesichts undifferenzierter Kategorisierungen utopischer und radikaler Gruppen und Individuen. Unklar bleibt in der Forschung noch immer, was etwa einen »Radikalen« oder »Utopisten« im 17. Jahrhundert ausmachte. Dieses definitorische Problem sieht Davis bereits in Karl Mannheims einflussreicher Definition von Utopie aus dem Jahre 1929 angelegt2, die jegliche inhaltliche Charakterisierung ablehnte und ausschließlich eine funktionale Beschreibung zuließ. Mannheim zufolge war Utopie eine progressive und transformatorische Kraft der Geschichte und zugleich Antithese jeglicher Ideologie. In der Tradition Mannheims sind viele Narrative der Utopieforschung, dies verdeutlicht der Autor, demnach whiggish (teleologisch) durchzogen, weshalb sie nur begrenzt zum besseren Verständnis frühneuzeitlicher radikaler Momente beitragen konnten.

Im nachfolgenden Kapitel »Radicalism in a Traditional Society: The Evaluation of Radical Thought in the English Commonwealth 1649–1660«, nimmt der Autor diese Kritik auf und lotet die Möglichkeiten aus, radicalisms historisch zu bewerten. Dabei lehnt er deren Evaluierung anhand ihres Realitätsgehaltes oder anhand linguistischer Merkmale als wenig fruchtbringend ab. Vielmehr schlägt Davis vor, radicalism inhaltlich-funktional zu definieren. Radikalismus definiert sich demnach erstens durch die Delegitimierung der bestehenden Ordnung, zweitens durch die Legitimation einer neuen Ordnung, und drittens durch das Aufzeigen transformatorischer Wege, die die alte in die neue Ordnung überführen können (S. 24ff).

Zwei Kapitel beschäftigen sich mit frühneuzeitlichen englischen Antiformalismusdebatten und ihren Auswirkungen auf utopische und radikale Ideen. Zunächst stellt Davis dar, dass Formalismus in den 1650ern von religiösen Radikalen als blasphemischer, ja perverser Akt religiöser Scheinheiligkeit und Unehrlichkeit abgelehnt wurde (S. 95). Wie etwa James Harringtons »Oceana« oder Francis Bacons »Atlantis« zeigen, hatte diese antiformalistische Kritik ihrerseits aber auch tiefwirkenden Einfluss auf utopische Ideen, die einerseits die Ineffizienz der bestehenden Form anprangerten und somit dekonstruierten, ihr andererseits die perfekte Form in der Utopie entgegenstellten (S. 97). Damit gelang es ihnen, die im frühneuzeitlichen Formalismus zusammengedachten Komponenten der Autorität des Gesetzes und der individuellen Freiheit, auf neue, kreative Art und Weise miteinander zu verbinden. Insofern waren antiformalistische Utopien, so Davis’ These, ein zutiefst frühneuzeitliches Gedankenkonstrukt (S. 105).

Im folgenden Kapitel, das sich ebenfalls antiformalistischen Einflüssen widmet, fokussiert Davis dann verstärkt deren Reformpotenzial. Als nämlich im späteren 17. Jahrhundert Antiformalisten damit begannen, die Verbindung von Autorität und Freiheit zu lösen, leitete dies einen neuen Prozess ein, der Autorität und Freiheit antithetisch auseinanderzwang, womit diese Begriffe ihre uns vertrauteren, modernen Bedeutungen erhielten (S. 125). Dies hatte seinerseits Auswirkungen auf das Reformpotenzial antiformalistischer Ideen, die Veränderung nun in einen möglichen, neuen Erfahrungshorizont überführten, »Reform became a contemplatable possibility« (S. 128).

Im anschließenden Kapitel widmet sich Davis verstärkt dem Freiheitskampf der englischen Revolutionäre. Dabei stellt er nicht nur den unumstrittenen politischen, sondern auch den religiösen Charakter der Revolution heraus: Auch wenn das Ringen um Freiheit von Willkürherrschaft zentral war, ging es andererseits auch um Freiheit von Weltlichkeit: Religiöse Antiformalisten kämpften darum, auf Gottes »providential promtings« reagieren und sich in seinen Dienst stellen zu können (S. 158).

In den letzten drei Kapiteln sind konkrete Interpretationen utopischer Entwürfe versammelt: Thomas Morus’ »Utopia« gibt in Davis’ Lesart den Leserinnen und Lesern keine geringere Aufgabe mit als selbst zu bewerten, ob »Utopia« (als das Nirgendwo) Unsinn oder zielführende Vision darstellt: Dies wird bereits in der Anlage der beiden miteinander im Gespräch stehenden Hauptprotagonisten verdeutlicht: Einerseits erscheint Raphael Hythlodäus als engelhafter, göttlicher Botschafter (Raphael). Andererseits verweist der Beiname Hythlodäus auf denjenigen Sprecher, der nonsense verbreitet. Auch der fiktive Gesprächspartner Thomas Morus kommt einerseits als umsichtiger Zweifler (Thomas) daher, andererseits aber auch als Unverständiger (Morus).

In seiner Interpretation von James Harringtons »Oceana« aus dem Jahre 1656 betont Davis dagegen die narrative Potenz des Werkes, das in Zeiten von Umbruch und Unsicherheit eine neue, imaginative Vision von Einigkeit und Stabilität versprach (S. 223). Gemeinsam haben »Utopia« und »Oceana«, eine utopische Alternative bereitzustellen, indem sie die bestehende Ordnung als unerträglich markieren: Während Morus dies erreichte, indem er die reale Welt als eine durch Konventionen Konstruierte darstellte, entwarf Harrington mit seiner »Oceana« eine detailliert narrativierte, und damit mögliche, alternative Welt (S. 228). Die Delegitimierung der bestehenden Ordnung macht für Davis schließlich das radikale Moment der beiden Utopien aus, deren Einordung als »unrealistisch« für Davis deshalb nur fehlgeleitet sein kann: »The radical moment may come therefore when the fictions, fantasies and collective illusions whereby the status quo is legitimated become unsupportable. To brand the radical as »unrealistic« is accordingly to miss the point that, and not only from the radicals’ perspective, a world of imagined, strained and perverted illusion has to be replaced by an imagined (because yet to exist) alternative world« (S. 229).

Für die Leserinnen und Leser des Bandes ist es nicht zuletzt spannend zu beobachten, wie ein profilierter Utopiekenner in Einleitung und Schluss auf sein Schaffen zurückblickt –alle Essays wurden in der Vergangenheit bereits veröffentlicht – und dieses kondensiert und narrativiert. Es hätte allerdings sein Verdienst nicht geschmälert, hätte Davis als ein Erfahrener der Zunft den Versuch unternommen, die eigenen Denkprozesse in ihrer Standortgebundenheit darzustellen, und so auch die Umwege und Veränderungen der eignen Ideen zu markieren. Damit wäre er jedenfalls seinen eigenen Forderungen nachgekommen, das zu Erforschende radikal zu historisieren.

1 John Colin Davis, Fear, Myth and History. The Ranters and the Historians, Cambridge 1986.
2 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christine Zabel, Rezension von/compte rendu de: John Colin Davis, Alternative Worlds Imagined, 1500–1700. Essays on Radicalism, Utopianism and Reality, Basingstoke, Hampshire (Palgrave Macmillan) 2017, VIII–246 p. (Palgrave Studies in Utopianism), ISBN 978-3-319-62231-6, EUR 88,39., in: Francia-Recensio 2019/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62990