Zu keinem Zeitpunkt im Laufe der jahrhundertelangen Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen waren die beiden Gesellschaften diesseits und jenseits des Rheins so eng miteinander verflochten wie in den beiden Jahrzehnten um 1800. Ungeachtet dessen spielt dieser Aspekt in den Erinnerungskulturen beider Länder bis auf den heutigen Tag eine höchst unterschiedliche Rolle. Das gilt insbesondere für die Phase der napoleonischen Herrschaft in Deutschland zwischen 1806 und 1813. Während die noch in der frühen Bundesrepublik vorherrschende Damnatio memoriae der Rheinbundzeit allmählich überwunden wurde und sich ein Narrativ durchgesetzt hat, das den Begriff der »Fremdherrschaft« meidet und stattdessen den Fokus auf die napoleonische Reformpolitik und den dadurch beförderten Modernisierungsprozess richtet, ist diese Phase in der französischen Historiografie noch immer unterbelichtet. Umso mehr fallen die Arbeiten jener Historiker und Historiker ins Gewicht, die sich seit den 1980er Jahren und verstärkt seit der Jahrhundertwende dem Rheinbund sowie den linksrheinischen und nordwestdeutschen départements zugewandt haben.
Zu diesem nach wie vor überschaubaren Kreis zählt auch Michel Kerautret, der neben seiner 2005 erschienenen »Histoire de la Prusse« mehrere einschlägige Studien zur napoleonischen Zeit publiziert hat und mit dem hier zu besprechenden Buch mehr vorlegt, als der Titel verspricht. Denn neben einem weitgehend allgemein gehaltenen Überblick über die Geschichte des deutschsprachigen Raums im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert (S. 13–49), die militärische Lage um 1806 und die Affäre Palm (S. 51–94; 89–94) enthält es die Edition eines erstmals ins Französische übersetzten Textes, der bis heute als Auftakt antinapoleonischer Publizistik gilt: der 1806 anonym erschienenen Flugschrift »Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung« (S. 95–180).
Über deren Urheberschaft besteht nach wie vor Unklarheit. Zugeschrieben wurde sie u.a. dem Schriftsteller Julius von Soden (1754–1831) und dem Pastor Philipp Christian Gottlieb Yelin (1740-1814). Vor einem französischen Militärgericht in Braunau am Inn verantworten musste sich jedoch der Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm (1766–1806), in dessen Verlag die Schrift publiziert worden war und der nicht bereit war, den Namen des Autoren preiszugeben, woraufhin er am 26. August 1806 wegen Aufrufs zum Aufstand gegen die französischen Truppen zum Tode verurteilt und noch am selben Tage hingerichtet wurde.
Dass an Palm ein Exempel statuiert wurde, das weit über den bayerischen Raum hinaus der Abschreckung dienen sollte, war vor allem Napoleon zuzuschreiben. Der hatte am 5. August 1806, einen Tag vor Auflösung des Alten Reiches, den in München stationierten Marschall Louis-Alexandre Berthier wissen lassen, dass all jene Buchhändler in Augsburg und Nürnberg, die hochverräterische Schriften verbreiteten, unverzüglich des Hochverrats anzuklagen, zu verurteilen und zu exekutieren seien – und davon »toute l’Allemagne« in Kenntnis zu setzen sei (zitiert nach S. 51f.). Auch wenn das Todesurteil schließlich nur an Palm vollstreckt wurde – die anderen Angeklagten waren entweder dem französischen Zugriff entzogen oder wurden begnadigt – signalisierte das brachiale Vorgehen der Militärmacht allzu deutlich, womit Kritiker und Feinde der neuen napoleonischen Herrschaft über Mitteleuropa zu rechnen hatten.
Es sei dahingestellt, ob die Schrift, die mit Napoleons Expansionsstreben und der Kooperationsbereitschaft vieler deutscher Fürsten scharf ins Gericht ging, geeignet war, eine breitere Leserschaft für sich zu gewinnen. Der anspielungsreiche, in weiten Teilen sperrig formulierte Text setzte beim Leser einiges Vorwissen voraus. Vor allem aber konzentrierte er sich fast ausschließlich auf diplomatische, militärische und dynastische Aspekte und nicht auf den von zahlreichen Zeitgenossen als so belastend empfundenen gesellschaftlichen und innenpolitischen Reformstau. Vielmehr denunzierte der Verfasser gleich zu Beginn den »Freiheitsschwindel« der Revolution, dem die Franzosen erlegen seien, bevor ihn dann Napoleon exportiert habe (Originalmanuskript, S. 9). Überdies ließ so manche Fehleinschätzung den Text schon bald nach seiner Veröffentlichung als überholt erscheinen. Verwiesen sei nur auf die Hoffnungen, die der Verfasser auf den sächsischen Kurfürsten Friedrich August setzte, der ja schon bald zu einem engen Verbündeten Napoleons werden sollte. Immerhin enthielt der Text einige Passagen, die, als Zitat kolportiert, einige Unruhe in der von französischen Truppen heimgesuchten Bevölkerung Süddeutschlands auszulösen imstande waren (wie »Fressen, Saufen, Raub und Weiberschänden, waren Tagesordnung der französischen Armee« [OM, S. 22]) – oder sich sogar als ein Aufruf zum Widerstand interpretieren ließen (wie »noch heute hat der deutsche Staatskörper kraftvolle Glieder, die jedem feindlichen Angriff gewachsen und Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, im Stand sind« [OM, S. 48]). Auch mit der Titelwahl hatte der Verfasser Geschick bewiesen: Der Topos der »tiefen« oder gar »tiefsten Erniedrigung« war denn auch lange Zeit ein Gemeinplatz in deutschen Geschichtsbüchern, insbesondere mit Blick auf Preußen.
Vor allem aber war es das Schicksal des Verlegers, das Aufsehen erregte und der Affäre Palm einen festen Platz in der nationalistischen wie freiheitlichen Erinnerungskultur verschaffen sollte. So wurde der Buchhändler bis weit ins 20. Jahrhundert als erster deutscher Märtyrer eines gegen Frankreich gerichteten Freiheitskampfes stilisiert – eine nationalistische Legendenbildung, die besonders hartnäckig in der DDR aufrechterhalten wurde, wo die Flugschrift 1983 mit einem Geleitwort als Reprint-Ausgabe erschien. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich in der bundesrepublikanischen Historiographie längst eine distanzierte Sichtweise durchgesetzt, so dass Thomas Nipperdey in seiner ebenfalls 1983 erschienenen »Deutschen Geschichte 1800–1866« vor allem auf die »Mythen- und Legendenbildung« um Palm abhob (S. 25). Heute wird sein Name auch mit dem Kampf für Pressefreiheit in Verbindung gebracht, etwa durch die seit 2002 alle zwei Jahre vorgenommene Verleihung eines nach ihm benannten Preises für Meinungs- und Pressefreiheit.
Es ist denn auch weniger der Text selbst als die Wirkungsgeschichte und die Instrumentalisierung der Affäre Palm, für die sich Historiker heute interessieren. Um diese angemessen beschreiben zu können, bedarf es freilich zunächst einmal der genauen Textkenntnis. Auf Deutsch ist die Originalausgabe der Schrift längst digital leicht zugänglich (https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10857572_00001.html). Dank der erfolgten Übersetzung liegt die Flugschrift nun endlich auch auf Französisch vor. Dass sich Michel Kerautret dafür entschieden hat, die erste, vermutlich Ende Mai/Anfang Juni 1806 veröffentlichte und nicht die zweite weitaus aggressiver gehaltene Fassung zu edieren, ist einerseits nachvollziehbar, als diese zweite, im Juli gedruckte Ausgabe seinerzeit keine Verbreitung fand. Andererseits hätte nichts dagegen gesprochen, eine Textkollation vorzunehmen. Das schmälert freilich nicht das Verdienst, mit der Flugschrift und der aus ihr erwachsenen Affäre die Aufmerksamkeit auch im frankophonen Raum auf ein Ereignis gelenkt zu haben, das den Anstoß für weitere Forschungen zum deutsch-französischen Jahr 1806 geben mag.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Armin Owzar, Rezension von/compte rendu de: Michel Kerautret, Un crime d’état sous l’Empire. L’affaire Palm, Paris (Vendémiaire) 2015, 225 p. (Bibliothèque du XIXe siècle), ISBN 978-2-36358-240-9, EUR 18,00., in: Francia-Recensio 2019/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62994