Beatrice Heuser setzt sich in diesem Buch mit dem Begriff »Strategie« in Theorie und Praxis in den Jahrhunderten auseinander, bevor das Wort in den 1770er Jahren in den europäischen Wortschatz eingeführt wurde. Sie stellt dabei die Frage, ob es Strategie im modernen Sinne schon vor Clausewitz gab, ohne ausdrücklich als solche bezeichnet worden zu sein. Anhand ausgewählter Beispiele zeigt sie, dass strategisches Denken tatsächlich vor dem letzten Jahrhundert existierte, auch wenn es noch kein allgemein anerkanntes Wort dafür gab.
Heutzutage umfasst das Wort »Strategie« eine breite Palette von Bedeutungen: Es wird sowohl im breiten Sinne als Synonym für Planung oder als Außenpolitik in einem feindlichen Umfeld, als auch im engeren Sinne als »umfassender Weg, einschließlich der Androhung oder des tatsächlichen Einsatzes von Gewalt, um zu versuchen, politische Ziele in einer Dialektik des Willens zu verfolgen«1, verwendet. Dieser letzten Definition folgend wird gefragt, inwiefern damals strategisch gedacht wurde und wie sich Strategie auf dem Schlachtfeld ausdrückte. Dabei geht es Beatrice Heuser nicht darum, eine moderne Definition auf die Vergangenheit zu übertragen, sondern nach den Merkmalen zu suchen, die militärische Strategie charakterisieren.
In jedem Fall geht es um die Verknüpfung von Gewaltanwendung mit politischen Zielen oder, anders formuliert, um das Verhältnis zwischen Krieg und Staatskunst, wenn sich eine raffiniertere Politik mit ihrer Arbeitsteilung und ihrer politischen und militärischen Führung etabliert hatte. Die Kriegsführung bildete das Werkzeug der Staatskunst genauso wie diplomatische Handlungen, einschließlich der Bildung von Koalitionen oder Allianzen durch Heirat, oder die Isolierung eines Feindes, oder auch wirtschaftliche Instrumente wie Handelszugeständnisse, Tarife, oder die sogenannte Scheckbuchdiplomatie (der Kauf eines Gegners). Bis ins 19. Jahrhundert gingen Krieg und Staatskunst Hand in Hand.
Strategie beginnt damit, dass Ziele identifiziert werden; dabei geht es darum, zu planen und Entscheidungen u. a. über die Wahl der Ziele, Mittel und Wege zur Anwendung der Mittel zu treffen. Es geht darum, Aufgaben gegenüber anderen zu priorisieren. Dies wird besonders deutlich, wenn Kriege gegen mehr als einen Gegner, an mehr als einer Front mit unterschiedlichen Streitkräften auf Meer und Land geführt werden. Außerdem geht es auch um die Entscheidung, welche Front, welche Region unbedingt und vorrangig verteidigt werden muss. Schließlich geht es auch darum zu entscheiden, mit welchen Mitteln und unter welchen Umständen der Krieg weitergeführt werden soll. Wenn wir also – nach der Definition der amerikanischen Militärhistorikerin Kimberly Kagan – unter Strategie »die Kette der Staatsziele eines Staates und der Prioritäten unter diesen Zielen, um Ressourcen zuzuweisen und die besten Mittel zur Verfolgung eines Krieges zu wählen«2 verstehen, können wir Strategie – oder Reflexionen über Strategie oder strategische Vorschriften – in den Quellen erkennen, die widerspiegeln, dass solche Entscheidungen oder Priorisierungen getroffen wurden.
Diesem Ziel folgend beginnt die Analyse mit einem Überblick über die Ursachen und Ziele der Kriegsführung in Europa, illustriert durch drei Fallstudien von strategischen Praktikern, die eine »große Strategie« hatten und sie zu ihren Lebzeiten auf dem Schlachtfeld anwandten. Unter »Großstrategie« versteht der britische Militärhistoriker und Stratege Basil Henry Liddell Hart (1895–1970) die Koordination und Ausrichtung »aller Ressourcen einer Nation oder eines Völkerbundes zur Erreichung eines politischen Kriegsziels«3. Hierfür wird die Kriegsführung Edwards III. von England, Philipps II. von Spanien und Ludwigs XIV. von Frankreich untersucht, die deshalb ausgewählt wurden, weil deren Biographen behaupten, sie hätten strategisch gedacht und dementsprechend gehandelt.
In weiteren Kapiteln werden berühmte strategische Denker und Praktiker nach deren Definition einer Strategie avant la lettre analysiert. Dabei sind wir auf den ersten Blick erstaunt, in dieser Reihe den Namen einer Frau, Christine de Pizan (1364–ca. 1430), und den Namen des Klerikers Matthew Sutcliffe (ca. 1550–1629) neben Militärexperten wie Lazarus Schwendi (1522–1583), Comte de Guibert (1743–1790) und Clausewitz (1780–1831) sowie dem des einflussreichsten Militärtheoretiker des 17. Jahrhunderts Raimondo Montecuccoli (1609–1680) zu lesen.
Mit Christine de Pizan haben wir es mit einer der ersten strategischen Denkerin zu tun, die sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts unter dem Eindruck der französischen Bürgerkriege zwischen Bourguignons und Armagnacs in den Werken »Le Livre des faits d’armes et de chevalerie« (1410), »Lamentations sur les maux de la guerre« (1410) und »Le Livre de la paix« (1413) mit dem Phänomen Krieg auseinandersetzte. Sie glaubte an einen gerechten Krieg; sie charakterisierte die Gründe für innere Rebellion und einen äußeren Krieg zwischen den Staaten und plädierte auch für die Verwendung diplomatischer Mediation, um Frieden herbeizuführen.
Lazarus Schwendi und Raimondo Montecuccoli lebten beide zur Zeit der europäischen Religionskriege und wurden mit türkischen Einfällen konfrontiert. Beide schrieben über militärische Praktiken, Ausbildung und Finanzen. Während Schwendi glaubte, den Frieden durch Beschwichtigung und ein harmonisches Zusammenleben mit den Türken aufrechterhalten zu können, versuchte Montecuccoli, die Taktik der Überraschung und Mobilität zu nutzen, um die türkische Armee zurückzuhalten: eine Strategie, die sich in der Tat als sehr erfolgreich erwies.
In dieser Reihe von Militärexperten wird die Bedeutung und die Wirkung der militärtheoretischen Werke des Comte de Guibert erfreulicherweise gebührend gewürdigt. Der Verfasser des berühmten »Traité général de tactique« (1772) – sein Einfluss auf das Verständnis vom Krieg und Militär bei Clausewitz und Napoleon I. ist mittlerweile anerkannt – erfährt zurzeit in der »Neuen Militärgeschichte« lebhaftes Interesse.
In seiner Antrittsvorlesung 1955 in Belfast hatte Michael Roberts den tiefgreifenden Wandel der Militärtechnologie als »Military Revolution« bezeichnet, der zu Veränderungen in vielen anderen Bereichen, insbesondere zur Bildung des modernen fiskalisch-militärischen Staates geführt hätte. Über die Diskussion um das umstrittene Konzept hinaus fragt Heuser im 3. Kapitel, wie die damaligen Änderungen der Kriegsführung von den Zeitgenossen wahrgenommen wurden.
Das 6. Kapitel enthält eine diachrone Studie über die Entwicklung eines Schlüsselkonzepts der Marinestrategie und trägt dazu bei, den Beginn moderner maritimer Strategien und die Idee der Seemacht zu verstehen. Im 9. Kapitel werden schließlich einige von Clausewitz’ Schlüsselideen auf ihre Vorläufer übertragen.
Insgesamt liefert Beatrice Heuser mit diesem Buch eine detailreiche Analyse strategischen Denkens und Handelns, wobei sie sich ausdrücklich für eine westeuropäische Perspektive entschieden hat. Mit dieser bahnbrechenden Geschichte der Strategie avant la lettre stellt sie die Weichen für eine wünschenswerte Fortsetzung dieser Reflexion in einer außereuropäischen Perspektive.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Isabelle Deflers, Rezension von/compte rendu de: Beatrice Heuser, Strategy Before Clausewitz. Linking Warfare and Statecraft, 1400–1830, London, New York (Routledge) 2018, XVI–239 p., 5 fig., 3 maps (Cass Military Studies), ISBN 978-1-138-29090-7, GBP 105,00., in: Francia-Recensio 2019/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.62998