Das Thema des Sammelbandes reicht historisch weit zurück und ist gleichzeitig hochaktuell. Die Bezeichnung »Verräter« hat in der christlichen Welt ihr Urbild in Judas, der Christus verriet, aber in der letzten Zeit findet sich diese Bezeichnung wieder häufiger in den Medien, egal ob es sich um den whistle-blower Edward Snowden, um die Gegner des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan, oder um Terroristen, die von amerikanischer Seite als Verräter gesehen werden, handelt. Ein Begriff, der lange Zeit kaum verwendet wurde, erlebt also eine neue Blütezeit.
Besonders lesenswert ist der Einleitungsaufsatz des Herausgeber André Krischers, der die durchaus neue methodische Zugangsweise des Bandes erläutert, das Buch will keine Geschichte der bedeutenden Ereignis oder der bekannten »Verräter« geben, sondern will die Deutungsmuster dieses Tatbestandes analysieren.
Die Einleitung gibt eine gute, knappe Übersicht zur rechtlichen Situation, vom römischen Recht, über die frühneuzeitliche Rechtsprechung der Carolina von 1532, den besonders bedeutsamen Traktat von Tiberius Decani, dem angelsächsischen Common Law, der Bedeutung von Verrat in den Revolutionen der Neuzeit, die moderne Unterscheidung von Hochverrat und Landesverrat, wie sie im preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 auftritt, bis heute. Das 19. Jahrhundert hat den Begriff des Verrats stark strapaziert – man denke nur an den Fall Dreyfus in Frankreich – aber auch in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, im Faschismus, im Nationalsozialismus und im Stalinismus erlebte der Begriff des Verrats eine neue Blüte, der es den Regimen ermöglichte, nicht nur einzelne Gegner auszuschalten, sondern auch als Legitimation für Massenmorde diente.
Das Buch versammelt 16 Fallstudien zum Thema, die vor allem eines klar machen, dass die Analyse solcher Fragen weitaus komplexer ist, als die Berichte der Zeitgenossen es vermuten lassen. Wesentlich für viele der Aufsätze erweist sich auch das Einbeziehen von späterer Rezeption, die manchmal die Sachverhalte und Beurteilungen in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen.
Fabian Schulz beschäftigt sich in seinem Beitrag mit einem sehr oft untersuchten Thema aus neuer Perspektive. Die Ermordung von Julius Cäsar durch Marcus Iunius Brutus als »Vatermord« im politischen, nicht im genetischen Sinn stilisiert, wird unter den Aspekten des politischen Machtkampfs und der Deutungshoheit in den Diskursen jener, die sein »Erbe« übernahmen, betrachtet.
Wie ein »Verräter« gemacht wird, zeigt Gerald Schwedler am Beispiel des bairischen Herzogs Tassilo III. auf, der versuchte seine Machtbasis in Bayern gegen Karl den Großen auszubauen. Eine Art Schauprozess in Ingelheim, in dem noch nicht von Verrat die Rede war, stellt den Ausganspunkt für die Konstruktion des Verrates dar, die sich langfristig durchgesetzt hat.
Ulrich Hoffman behandelt die Verräter, die in der mittelalterlichen Literatur – im »Rolandslied«, beim »Prosalancelot«, im »Nibelungenleid« und in Dantes »Divina Commedia« – auftreten. Einerseits steht dabei die Treue und Loyalität der Vasallen im Vordergrund, aber auch narrative Strukturen spielen in der Stilisierung der betreffenden Personen eine gewichtige Rolle.
Gabriele Haug-Moritz greift zwei Fälle in der Frühen Neuzeit auf, den des Verräters Moritz von Sachsen und den des Verratenen, François de Lorraine, duc de Guise. Bekannt und diskutiert in der deutschsprachigen Forschung ist das Verhalten des Herzogs Moritz von Sachsen, der sich im polarisierten konfessionellen Umfeld dem katholischen Kaiser zuwendet und damit Kurfürst Johann Friedrich I. verrät und von den Zeitgenossen häufig als »Judas« bezeichnet wurde. Weniger bekannt in unserem Sprachraum ist die Ermordung des Herzogs von Guise durch den gedungenen Mörder Jean de Poltrot, der als Verräter des französischen Königreichs verurteilt und gevierteilt wurde.
Weitere Beiträge sind dem Fall des Landgrafen von Hessen-Kassel am Beginn des Dreißigjährigen Krieges (Tim Neu), der Hinrichtung Karls I. in England und der dabei eingesetzten religiösen Rhetorik und der Hinrichtung Ludwigs XVI. in Frankreich, die beide zur Abschaffung der Monarchie führten (Andreas Pečar), sowie dem Verrat Wilhelms von Fürstenberg, der mit Frankreich in enger Beziehung stand, gewidmet (Tilman Haug).
Der Herausgeber André Krischer beschäftigt sich in seinem eigenen Beitrag mit der Stigmatisierung der Papisten (Katholiken) im England der Frühen Neuzeit, die mehrfach in der Geschichte des Staates zu Problemen führte. Gerade dieser Aufsatz zeigt den starken Einfluss der Texte und Bilder der Medien der Zeit (Flugschriften und Pamphlete) auf die Konstruktion des Bildes der Verräter auf.
Andres Raffl, der »Judas von Tirol«, heißt der Aufsatz von Andreas Oberhofer, in dem er den Verrat an Andreas Hofer in Tirol aufrollt und zeigen kann, dass sich ein »Verräter« im Laufe der Zeit zu einem »Erlöser« entwickeln kann, wie das in der Historiographie zum »Tiroler Freiheitskampf« in den 1980er Jahren geschehen ist.
Drei weitere Themen führen in die Neue Welt, sie handeln von Benedict Arnold, dem zu den Briten übergelaufenen Urbild des Verräters in den USA (Volker Depkat), von Malinche, der indigenen Frau des Konquistadors Hernán Cortés, deren Rolle von dem Hintergrund politischer Veränderungen, ganz andere Bedeutungen annahm, als die ursprüngliche Bezeichnung »Verräterin« glauben macht (Katrin Dircksen) und schließlich der Fall des Ehepaares Ethel und Julius Rosenberg, die als kommunistische Verräter in der McCarthy Ära in den USA 1953 hingerichtet wurden (Olaf Stieglitz).
Drei weitere Beiträge beschäftigen sich mit den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, in denen die Vorstellung von »Verrat« eine spezifische Bedeutung einnahm. Im Stalinismus mit der Dominanz von Misstrauen und Verschwörungsdenken wurde der Verräter mit Konterrevolutionär gleichgesetzt und legitimierte damit die Verfolgung von Gegnern des Systems (Fabian Thunemann).
Dass man den »Verrat« auch für andere Ziele gebrauchen konnte, zeigt eine Fallstudie über die Ermordung des SA-Führers Ernst Röhm 1934, durch die eine Legitimationskrise des NS-Systems überspielt werden konnte (Malte Zierenberg).
Im italienischen Spätfaschismus, als Mussolini in Oberitalien die Repubblica Sociale Italiana beherrschte, wurde jeder, der nicht gegen die Partisanen kämpfte, als Verräter angesehen, was letztlich die Massaker an der Zivilbevölkerung legitimierte (Massimiliano Livi).
Der letzte Beitrag beschäftigt sich mit dem deutschen Bundeskanzler Willy Brandt, dessen Ostpolitik von konservativer Seite als Verrat gesehen wurde, in diesen Auseinandersetzungen kommen erstmals auch Leaking-Praktiken vor (Peter Hoeres).
Verrat, so kann man abschließen feststellen, ist ein Vorwurf, der einen sehr differenzierten Hintergrund hat, Medien und deren Konstrukte in Bild und Wort sind dabei nicht aus der Analyse wegzudenken. Ein Grundzug ist jedenfalls die Frage von Inklusion von Menschen und Gruppen und der Exklusion derselben. Verrat wird nicht nur als persönliche, sondern auch als kollektive Bedrohung vor dem Hintergrund »paranoider Strukturen« (Hans Magnus Enzenberger) konstruiert.
Alles in allem ein sehr spannendes Buch, das in gut lesbarer Form neue Einsichten vermittelt und eine große Bereicherung der Forschung darstellt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Karl Vocelka, Rezension von/compte rendu de: André Krischer (Hg.), Verräter. Geschichte eines Deutungsmusters, Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2018, 353 S., zahlr. s/w Abb., ISBN 978-3-412-22186-7, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2019/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.2.63000